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Bockmist

Bockmist

Titel: Bockmist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Hugh
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Jacke und schob das ganze Zielfernrohr darunter, um es mit meinem Körper aufzuwärmen.
    Es war kalt und totenstill, und ich hörte meine zitternden Finger auf dem Metall klappern, als ich das Gewehr zusammensetzte.
     
    Ich hatte ihn im Visier. Vielleicht noch achthundert Meter weit weg. Er war so fett wie eh und je, mit einer Silhouette, von der Heckenschützen nur träumen können. Falls Heckenschützen träumen.
    Selbst auf diese Entfernung war unübersehbar, daß Dirk Höllenqualen durchlitt. Körpersprachlich formulierte er kurze, abgehackte Sätze. Ich. Werde. Gleich. Sterben. Er schob den Hintern raus, die Brust weit vor, seine Beine waren steif vor Angst und Erschöpfung, und er bewegte sich mit der Langsamkeit eines Gletschers.
    Rhona war der Abfahrt etwas besser gewachsen, wenn auch nicht viel. Unbeholfen, ruckartig, aber doch mit einem gewissen Vorankommen trudelte sie möglichst langsam die Piste herab, stets bestrebt, sich nicht zu weit von ihrem bedauernswerten Mann zu entfernen.
    Ich wartete.
    Bei sechshundert Metern fing ich an, mir die Lungen vollzupumpen, betankte mein Blut mit Sauerstoff, damit ich den Hahn bei dreihundert an die Zapfsäule hängen konnte. Ich atmete durch den Mundwinkel aus, blies sanft vom Fernrohr weg.
    In einer Entfernung von vierhundert Metern stürzte Dirk zum ungefähr fünfzehnten Mal und ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Ich sah ihn nach Luft schnappen, zog den geriffelten Griff der Kammer zurück und hörte, wie der Piston mit schallendem Klicken einrastete. Herrgott, dieser Schuß würde vielleicht ein Getöse abgeben. Ich hatte plötzlich Lawinen vor Augen und mußte mich zusammennehmen, damit ich nicht in wilde Phantasien abdriftete, unter Tausenden von Tonnen Schnee begraben zu liegen. Was war, wenn meine Leiche jahrelang unauffindbar blieb? Was war, wenn dieser Anorak längst hoffnungslos veraltet war, wenn sie mich endlich rausholten? Ich zwinkerte fünfmal und versuchte, Atmung, Sicht und Panik zu beruhigen. Es war zu kalt für Lawinen. Für Lawinen braucht man erst viel Schnee und dann viel Sonne. Wir hatten weder noch. Reiß dich zusammen. Ich linste wieder durchs Zielfernrohr und sah, daß sich Dirk aufgerappelt hatte.
    Er stand und sah mich an.
    Zumindest sah er in meine Richtung, spähte in den Wald herab, während er sich den Schnee von der Skibrille putzte.
    Er konnte mich nicht gesehen haben. Das war einfach unmöglich. Ich hatte mich hinter einer Schneeverwehung eingegraben, für das Gewehr nur einen ganz schmalen Kanal gebuddelt, und selbst wenn er Gestalten hätte erkennen wollen, wären sie ihm hinter dem unregelmäßigen Gehölz verborgen geblieben. Er konnte mich nicht gesehen haben.
    Was beobachtete er dann aber?
    Vorsichtig zog ich den Kopf unter den Kamm der Schneewehe zurück und sah mich nach einsamen Langläufern um, Gemsen auf Abwegen oder den Revuegirls von No, No, Nanette – was immer Dirks Interesse auf sich gezogen haben mochte. Ich hielt den Atem an und drehte den Kopf langsam von links nach rechts, suchte den Hügel nach Geräuschen ab.
    Nichts.
    Ich kroch langsam auf den Grat der Verwehung zurück und sah wieder durchs Visier. Links, rechts, hoch, runter.
    Kein Dirk.
    Mein Kopf schnellte hoch, genau so, wie es einem immer verboten wird, und suchte das stechende, flirrende Weiß verzweifelt nach seinem Verbleib ab. Ich schmeckte plötzlich Blut im Mund, und mein Herz hämmerte gegen die Rippen, als wollte es sie durchbrechen.
    Da. Dreihundert Meter weit weg. Schneller geworden. Auf einem flacheren Teil der Piste probierte er es mit Schußfahrt, und das hatte ihn auf die andere Seite der Abfahrt gebracht. Ich blinzelte wieder, legte das rechte Auge ans Zielfernrohr und schloß das linke.
    Bei zweihundert Metern atmete ich tief und konzentriert ein und hielt die Luft an, nachdem meine Lungen dreiviertelvoll waren.
    Dirk kreuzte jetzt. Kreuzte den Hang und meine Schußlinie. Ich behielt ihn mit Leichtigkeit im Visier – hätte jederzeit feuern können –, aber ich wußte, daß das hier der sicherste Schuß meines Lebens werden mußte. Ich schmiegte den Finger um den Abzug, spannte seine Feder mit dem weichen Fleisch zwischen dem zweiten und dritten Fingergelenk und wartete.
    Etwa hundertfünfzig Meter von mir entfernt blieb er stehen. Sah den Berg hoch. Den Berg runter. Dann wandte er mir die Brust zu. Er schwitzte Blut und Wasser, keuchte vor Anstrengung, vor Angst, vor dem Wissen. Ich richtete das Fadenkreuz auf seine Brustmitte aus.

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