Bockmist
Strecke bringen. Für gewöhnlich verfehlen sie uns. Jede Menge Meilen auf der Autobahn, ohne daß uns ein Vorderreifen platzt. Jede Mengen Viren durchschlittern unsere Körper, ohne sich irgendwo festzubeißen. Jede Menge Klaviere stürzen auf den Gehweg, den wir vor einer Minute entlanggegangen sind. Oder vor einem Monat, spielt eh keine Geige.
Wenn wir also nicht jedesmal auf die Knie fallen und Dankesgesänge anstimmen wollen, wenn das Verderben mal wieder danebengehauen hat, dann hat auch das Flennen keinen Sinn, wenn es mal richtig gezielt hat. Ob nun auf uns oder jemand anders. Denn wir können es mit nichts vergleichen. Außerdem sind wir sowieso alle tot oder wurden nie geboren, und in Wirklichkeit ist die Realität eh nur ein Traum.
Sehen Sie? Das ist die heitere Seite.
14
Die Freiheit schläft, sie ist verzagt,
Doch pulst sie und erbebt,
Sobald ein zürnend Herz ihr klagt.
Dann zeigt sie, daß sie lebt.
THOMAS MOORE
Als ich in meine Straße einbog, parkten dort zwei Fahrzeuge, die ich nicht erwartet hatte. Das eine war meine Kawasaki, blutverkrustet und mit blauen Flecken, aber sonst in ganz anständiger Verfassung. Das andere war ein knallroter TVR.
Ronnie hatte sich den Mantel bis unters Kinn gezogen und war am Steuer eingeschlafen. Ich öffnete die Beifahrertür und setzte mich neben sie. Sie schreckte hoch und sah mich von der Seite an.
»‘n Abend«, sagte ich.
»Hallo.« Sie blinzelte ein paarmal und sah auf die Straße. »Um Gottes willen, wie spät ist es denn? Mir ist eiskalt.«
»Viertel vor eins. Möchtest du mit reinkommen?«
Sie überlegte einen Augenblick.
»Du gehst aber ganz schön ran, Thomas.«
»Ich geh’ ganz schön ran?«, fragte ich. »Na ja, wie man’s nimmt, nich’?« Ich öffnete die Tür wieder.
»Wie man was nimmt?«
»Ich meine, bist du hierhergefahren, oder hab’ ich meine Straße um dein Auto herumgebaut?«
Sie überlegte noch ein bißchen.
»Für ‘ne Tasse Tee könnt’ ich einen Mord begehen.«
Wir saßen wortlos in der Küche, tranken unseren Tee und rauchten. Ronnie war in Gedanken versunken, und über den Dilettantendaumen gepeilt hätte ich gesagt, daß sie geweint haben mußte. Oder sie hatte mit dem Mascara die epileptischen Anfälle der Neuen Wilden imitiert. Ich bot ihr einen Scotch an, aber sie lehnte dankend ab, also goß ich mir die letzten vier Tropfen ein, fest entschlossen, sparsam damit umzugehen.
Ich versuchte, mich auf Ronnie zu konzentrieren und nicht an Lucas, Barnes oder Murdah zu denken, denn sie war aufgewühlt, und sie saß bei mir in der Küche. Die anderen nicht.
»Thomas, kann ich dich mal was fragen?«
»Klar.«
»Bist du schwul?«
Also ehrlich. Und das beim Aufschlag. Vorher muß man doch über Filme und Theaterstücke und den letzten Skiurlaub sprechen. Den ganzen Klumpatsch.
»Nein, Ronnie, bin ich nicht«, sagte ich. »Du etwa?«
»Nein.«
Sie starrte in ihren Becher, aber ich hatte Teebeutel genommen, also waren dort keine Antworten zu finden.
»Was ist denn mit – Dingenskirchen?«, fragte ich und zündete mir eine Zigarette an.
»Philip? Der schläft. Oder läßt sich irgendwo vollaufen. Weiß ich doch nicht. Interessiert mich auch nicht besonders.«
»Aber Ronnie. Das sagst du doch bloß mir zuliebe.«
»Tu’ ich gar nicht. Philip ist mir scheißegal.«
Es hat etwas überaus Faszinierendes, wenn eine kultivierte Frau Schimpfwörter benutzt.
»Du bist beschwipst«, sagte ich.
»Wir haben uns getrennt.«
»Du bist beschwipst, Ronnie.«
»Kann ich heut’ nacht bei dir schlafen?«, fragte sie.
Ich kniff mich in den Arm. Um sicherzugehen, daß ich mir das nicht bloß einbildete, kniff ich mich noch einmal.
»Du willst bei mir schlafen?«, fragte ich.
»Ja.«
»Du meinst nicht bloß, du willst zur selben Zeit wie ich schlafen, du meinst auch, im selben Bett?«
»Bitte!«
»Ronnie …«
»Ich behalt’ auch meine Sachen an, wenn’s sein muß. Thomas, ich möchte nicht noch einmal ›Bitte‹ sagen. Das ist katastrophal für das Ego einer Frau.«
»Es ist optimal für das Ego eines Mannes.«
»Ach, sei doch still.« Sie verbarg ihr Gesicht im Becher. »Ab sofort kannst du mir gestohlen bleiben.«
»Ha!«, sagte ich. »Hat geklappt.«
Schließlich standen wir auf und gingen ins Schlafzimmer.
Sie behielt ihre Sachen übrigens an. Ich meine übrigens auch. Wir lagen nebeneinander auf dem Bett und starrten eine Weile an die Decke, und als ich fand, daß die Weile
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