Bockmist
einen anderen Menschen.
Also hielt ich vorläufig die Klappe und hörte zu, und Solomon setzte mir das Kleingedruckte auseinander, wie ich die nächsten achtundvierzig Stunden verbringen sollte. Er sprach schnell, aber konzentriert, und wir kamen in neunzig Minuten zügig voran, weil er im Gegensatz zu den Amerikanern zum Glück nicht in jedem zweiten Satz »Das ist jetzt sehr wichtig« sagte.
Die Sonnenbrillen tranken Cola.
Den Nachmittag hatte ich frei, und da es vermutlich für längere Zeit mein letzter freier Nachmittag sein würde, verschwendete ich ihn auf das ausschweifendste. Ich trank Wein, las alte Zeitungen, hörte mir in einem Freiluftkonzert irgendwas von Mahler an und ergab mich überhaupt dem Dolcefarniente.
In einer Bar lernte ich eine Französin kennen, die für eine Softwarefirma arbeitete, und fragte sie, ob sie mit mir schlafen würde. Sie zuckte nur auf französisch mit den Schultern, was wohl nein heißen sollte.
Acht Uhr war die anberaumte Zeit, also trödelte ich bis zehn nach in einem Café herum, schubste noch eine Portion Eisbein mit Knödeln über den Teller und rauchte wie ein Schlot. Ich zahlte und trat in den kühlen Abend hinaus, und die Aussicht auf Action brachte meinen Puls endlich auf Trab.
Ich wußte, daß ich keinen Grund zur guten Laune hatte. Ich wußte, daß meine Aufgabe so gut wie aussichtslos war, daß der vor mir liegende Weg lang und steinig war und praktisch keine Tankstelle besaß und daß meine Chancen, mein Leben siebzig Jahre währen zu sehen, in den Keller abgesackt waren. Trotzdem hatte ich aus unerfindlichen Gründen gute Laune.
Am Treffpunkt wartete Solomon mit einer Sonnenbrille auf mich. Mit einer von den beiden Sonnenbrillen, meine ich. Nur daß er jetzt natürlich keine Sonnenbrille trug, weil es dunkel war, also mußte ich schnell einen neuen Namen für ihn kreieren. Nach einigen Augenblicken angestrengten Nachdenkens fiel mir Keine Sonnenbrille ein. In meinem Stammbaum muß sich ein Cree-Indianer eingenistet haben.
Ich entschuldigte mich dafür, daß ich so spät dran sei, Solomon lächelte und sagte, sei ich gar nicht, und ich ärgerte mich. Dann kletterten wir alle drei in einen schmutzigen, grauen Mercedes Diesel, Keine Sonnenbrille klemmte sich hinters Lenkrad, und wir verließen die Stadt auf der Hauptstraße nach Osten.
Nach einer halben Stunde hatten wir den Stadtrand von Prag hinter uns gelassen, die Straße hatte sich auf zwei halbwegs flotte Spuren verengt, und wir ließen es ruhig angehen. Ein Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit ist so ziemlich die dümmste Methode, eine Undercover-Aktion auf ausländischem Boden zu vermasseln, und Keine Sonnenbrille schien diese Lektion gelernt zu haben. Solomon und ich ließen gelegentlich eine Bemerkung über die Landschaft fallen, wie grün sie doch sei und wie sie stellenweise an Wales erinnere – ich habe allerdings keine Ahnung, ob einer von uns mal dort gewesen war –, aber davon abgesehen sprachen wir nicht viel, sondern malten Bilder auf die beschlagenen Scheiben, während draußen Europa vorbeizog. Solomon malte Blumen und ich Mondgesichter.
Nach einer Stunde tauchten die ersten Wegweiser nach Brno auf, was immer wie ein Schreibfehler aussieht und wie ein Sprachfehler klingt, aber ich wußte, daß wir nicht soweit wollten. Wir bogen nach Norden in Richtung Kostelec ab und dann fast sofort wieder nach Osten auf eine noch schmalere Straße, die gar keine Schilder mehr aufwies. Mehr läßt sich dazu kaum sagen.
Wir schlängelten uns etliche Kilometer durch einen schwarzen Kiefernwald, dann schaltete Keine Sonnenbrille auf Standlicht um, was uns verlangsamte. Nachdem wir einige Kilometer auf diese Weise hinter uns gebracht hatten, knipste er das Licht ganz aus und sagte, ich solle meine Zigarette ausdrücken, »Das Scheißding versaut mir die Nachtsicht.«
Und dann waren wir plötzlich da.
Man hatte ihn im Keller eines Bauernhofs festgehalten. Wie lange, wußte ich nicht – ich wußte nur, daß man ihn nicht mehr lange festhalten würde. Er hatte ungefähr mein Alter, ungefähr meine Größe und früher, als man ihm noch etwas zu essen gegeben hatte, auch ungefähr mein Gewicht. Man sagte, er heiße Ricky und käme aus Minnesota. Man sagte nicht, daß er Todesangst hatte und so schnell wie möglich nach Minnesota zurückwollte, aber das war auch nicht nötig. Das stand in seinen Augen, so klar und deutlich etwas in Augen stehen kann.
Ricky war mit siebzehn
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