Bodenlose Tiefe
du behauptest, ich wäre kein richtiger Schamane.«
Damit zog er die Tür hinter sich zu.
Nicholas hatte Recht, dachte Kelby müde. Er war erschöpft und frustriert und seine Stimmung war alles andere als heiter. Er war froh, dass Nicholas da war, aber im Moment hatte er keine Lust, sich mit ihm auseinander zu setzen. Er konnte die Erinnerung an Melis Nemids Gesichtsausdruck nicht abschütteln, an das Entsetzen in ihren Augen, als sie das zerfetzte Gesicht der Frau betrachtet hatte, die einmal ihre Freundin gewesen war. In dem Augenblick hätte er am liebsten laut geflucht und getobt, sie in die Arme genommen und aus dem Raum getragen.
Eine ungewöhnliche Reaktion für ihn. Andererseits waren alle seine Reaktionen ungewöhnlich, seit er Melis begegnet war.
Meistens gelang es ihm, seine Gefühle für sie zu kontrollieren, indem er sich auf etwas anderes konzentrierte, zum Beispiel auf ihre sexuelle Ausstrahlung, so wie er es im Krankenhaus in Athen gemacht hatte.
Aber seit er sie auf dem Flughafen in Tobago abgeholt hatte, gelang ihm das nicht mehr. Ja, er fühlte sich nach wie vor sexuell von ihr angezogen, aber da war so verdammt viel mehr.
Sie schien Gefühle bei ihm auszulösen, von deren Existenz er gar nichts mehr gewusst hatte.
Und sie hatte nicht, wie befohlen, die Zwischentür geöffnet.
Kelby durchquerte das Zimmer und öffnete sie einen Spaltbreit. In ihrem Zimmer brannte kein Licht, doch er spürte, dass sie noch wach war – und litt. Es war, als wäre er auf irgendeine Weise mit ihr verbunden. Verrückt.
Er konnte nur hoffen, dass sie ihren Kummer bald überwinden würde, damit er die Situation wieder in den Griff bekam.
Nicht an sie denken. Er würde sich bei Wilson telefonisch erkundigen, ob er diese Yacht schon aufgespürt hatte.
Anschließend würde er Halley anrufen und ihm seine Zimmernummer durchgeben für den Fall, dass er neue Informationen hatte.
Nicht an Melis Nemid denken, die allein in ihrem Zimmer saß.
Nicht an ihren Schmerz denken. Nicht an ihren Mut denken. Er musste sich konzentrieren und sein Ziel im Auge behalten.
Seinen Traum. Marinth.
Kelby klopfte an die Verbindungstür und öffnete sie, als Melis nicht reagierte. »Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Also, ich komme trotzdem rein. Ich habe Sie eine Weile allein gelassen, damit Sie in Ruhe trauern können, aber Sie hocken jetzt schon seit vierundzwanzig Stunden im Dunkeln.
Sie müssen was essen.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Nur ein bisschen.« Er schaltete das Licht an. »Nur so viel, dass Sie mir nicht verhungern. Ich habe Tomatensuppe und ein Sandwich für Sie bestellt.« Er verzog das Gesicht. »Ich weiß, dass Sie mich nicht hier haben wollen, aber Sie müssen mir sagen, ob es noch jemanden gibt, den ich für Sie benachrichtigen soll.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ist die Obduktion schon beendet?«
»Darüber wollen Sie jetzt bestimmt nicht reden.«
»Doch, das will ich.«
Er nickte. »Die Obduktion ist beendet und die Ergebnisse der DNA-Analyse liegen vor. Sie haben sich beeilt, weil sie aus verschiedenen Gründen eine endgültige Bestätigung haben wollten.«
»Die Leute, deren Patientenunterlagen gestohlen wurden.«
»Ich gebe zu, dass Halley ziemlich unter Druck steht. Das ist –«
Er unterbrach sich, als es an der Tür klopfte.
»Hier kommt Ihr Essen«, sagte er und ging zu Tür.
Sie hörte, wie er kurz mit dem Zimmerkellner sprach, dann schloss er die Tür und schob den Teewagen ins Zimmer.
»Setzen Sie sich und essen Sie was. Danach beantworte ich Ihnen alle Ihre Fragen.«
»Ich habe keinen –« Ihre Blicke begegneten sich. Er würde sich nicht erweichen lassen und sie brauchte Informationen. Der Preis war nicht zu hoch. Sie setzte sich und begann zu essen.
Nachdem sie das Sandwich aufgegessen hatte, schob sie den Wagen weg. Die Suppe hatte sie nicht angerührt. »Wann werden sie Carolyns Leichnam freigeben?«
Kelby schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein. »Soll ich Halley danach fragen?«
Sie nickte. »Sie wollte, dass sie eingeäschert und ihre Asche ins Meer gestreut wird. Ich möchte dabei sein, wenn es so weit ist. Ich muss mich von ihr verabschieden.«
»Ben Drake, ihr Exmann, kümmert sich bereits um alles. Er wartet nur noch darauf, dass der Leichnam freigegeben wird.«
»Ben muss am Boden zerstört sein. Er hat sie immer noch geliebt, wissen Sie. Sie konnten nicht zusammen leben, aber das hatte nichts zu bedeuten. Jeder hat Carolyn geliebt.«
»Vor allem Sie.« Er musterte sie.
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