Bodenlose Tiefe
Tür verriegelt.«
Damit schlug er die Tür hinter sich zu.
Sie war froh, dass er weg war. Er war zu stark, verströmte zu viel Energie. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren, wenn er in ihrer Nähe war. Aber sie brauchte jetzt all ihre Kraft, um die nächsten Stunden, die nächsten Tage zu überleben.
Und um sich zu überlegen, wie sie sich rächen konnte.
5
Am nächsten Morgen um halb zehn klingelte Melis’ Telefon.
»Ms Nemid, mein Name ist Nicholas Lyons. Jed ist auf dem Polizeirevier und wird sich etwas verspäten. Er hat mich gebeten, Sie zu der Beerdigung zu begleiten. Er wird dort zu uns stoßen.«
»Wir treffen uns in der Eingangshalle.«
»Nein, ich hole Sie an Ihrem Zimmer ab. Es gibt hier zu viele Ausgänge und Aufzüge sind immer gefährlich. Jed würde es mir sehr übel nehmen, wenn ich zuließe, dass man Sie vor meiner Nase entführt. Schauen Sie durch den Spion, wenn ich anklopfe.
Ich bin sicher, Jed hat mich Ihnen beschrieben. Groß, gut aussehend, würdevoll und charmant. Richtig?«
»Nicht ganz.«
»Dann werden Sie eine angenehme Überraschung erleben.« Er legte auf.
Sie warf einen Blick in den Spiegel. Gott sei Dank sah sie nicht so schrecklich aus, wie sie sich fühlte. Sie war blass, aber nicht verhärmt. Nicht, dass Marias Mutter das bemerken würde.
Sie war viel zu sehr von Trauer erfüllt, um – Es klopfte.
Sie spähte durch das Guckloch.
»Nicholas Lyons. Sehen Sie? Jed hat Sie angeschmiert.«
Er lächelte. »Er war schon immer eifersüchtig auf mich.«
Kelby hatte nicht gelogen. Lyons war mindestens eins neunzig groß, ausgesprochen muskulös und sein langes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Gesichtszüge waren so grobschlächtig, dass man sie als hässlich hätte bezeichnen können, wenn sie nicht so interessant gewirkt hätten.
»Jedenfalls sehen Sie nicht wirklich aus wie Geronimo.«
Sie schloss die Tür auf. »Ich kenne nur Fotos von Geronimo als altem Mann.«
»Kelby meinte natürlich die Kinoversion. Jung, dynamisch, intelligent, faszinierend.« Er wurde ernst. »Mein Beileid. Jed sagt, dass der Tod Ihrer Freundin Sie sehr mitgenommen hat.
Aber Sie sollen wissen, dass Ihnen nichts zustoßen wird, solange ich in Ihrer Nähe bin.«
Seltsam. Sie glaubte ihm. Er strahlte eine Stärke und Entschlusskraft aus, die beruhigend auf sie wirkten.
»Danke. Es ist gut zu wissen, dass ich Geronimo auf meiner Seite habe.«
»Und an Ihrer Seite.« Er trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie, machen wir uns auf den Weg. Sonst macht Jed sich am Ende noch Sorgen und dann wird er unausstehlich.«
Sie schloss ihre Tür und ging in Richtung Aufzug. »Sie müssen ihn sehr gut kennen.«
Er nickte. »Aber ich habe verdammt lange dazu gebraucht.
Seine Kinderstube hat nicht dazu beigetragen, dass er leicht jemandem Vertrauen und Zuwendung schenkt.«
»Ihre vielleicht?«
»Mein Großvater war sehr beeindruckend. Manchmal kommt es nur auf einen einzigen Menschen an.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Oh, Sie haben es bemerkt?« Er lächelte. »Sie sind wirklich eine scharfsinnige –« Plötzlich wirbelte er herum und stellte sich vor sie, als sich neben ihnen die Tür zum Treppenhaus öffnete.
Innerhalb von Sekunden hatte er sich völlig verändert, anstatt lässig und freundlich wirkte er jetzt einschüchternd und gefährlich. Der Kellner, der mit einem Tablett in der Hand in den Korridor getreten war, wich entsetzt vor Lyons zurück.
Melis konnte es ihm nicht verdenken. Sie hätte sicherlich genauso reagiert.
Nicholas lächelte, nickte dem Kellner höflich zu und bedeutete ihm vorauszugehen.
Eilig machte der Mann sich aus dem Staub.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Nicholas.
»Ah, ja, ich hatte gerade festgestellt, was für eine scharfsinnige Frau Sie sind.«
Und er war ein unglaublich faszinierender Mann, dachte sie.
Aber das war in Ordnung. Es wunderte sie nicht, dass Kelbys Freund einen ausgeprägten Charakter besaß. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Und im Moment brauchte sie keine Rätsel zu lösen. Heute musste sie zusehen, dass sie Marias Beerdigung irgendwie überstand, und ihre Mutter vielleicht ein bisschen trösten.
»Diese Nemid war heute auf der Beerdigung der Sekretärin«, sagte Pennig, als Archer ans Telefon ging. »Keine Chance, an sie ranzukommen. Kelby hat sie keine Minute aus den Augen gelassen, außerdem war sie dauernd von Polizisten und Trauergästen umringt.«
»Sie haben
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