Bodenlose Tiefe
»Sie sind gefasster, als ich erwartet hatte. Sie sind zwar leichenblass, aber als ich Sie herbrachte, habe ich damit gerechnet, dass Sie einen kompletten Zusammenbruch erleiden. Es hätte nicht viel gefehlt.«
Sie stand immer noch kurz davor. Sie fühlte sich, als wanderte sie am Rand einer hohen Klippe entlang, als setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer in der Furcht, die Felskante könnte unter ihren Füßen nachgeben. »Das würde ich Carolyn nicht antun.« Es kostete sie einige Kraft, mit fester Stimme zu sprechen.
»Sie wäre von mir enttäuscht, wenn ich zusammenbräche. Es würde ihr das Gefühl geben, mich nicht genug gestärkt zu haben.«
»Wenn Sie so liebevoll war, wie Sie behaupten, dann glaube ich nicht, dass es ihr etwas ausmachen würde, wenn Sie sich ein bisschen –«
»Mir würde es etwas ausmachen.« Sie stand auf und trat ans Fenster, das zum Meer hinausging. »Hat man schon irgendetwas Genaueres über Carolyns Tod herausgefunden?«
»Die offizielle Todesursache ist Blutverlust.«
Sie wappnete sich. »Sie wurde gefoltert, nicht wahr? Ihr Gesicht …«
»Ja.«
»Was … haben sie ihr angetan?«
Kelby schwieg.
»Sagen Sie es mir. Ich muss es wissen.«
»Damit Sie sich noch mehr Kummer machen können?«, fragte er brüsk.
»Wenn diese Leute sie gefoltert haben, dann haben sie es getan, weil sie wollten, dass sie mich hierher lockt. Beinahe wäre es ihnen gelungen, also müssen sie sie entsetzlich gequält haben.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie musste sich zusammennehmen. Sich in sich verkriechen, damit die Worte nicht so sehr schmerzten.
»Wenn Sie es mir nicht sagen, frage ich Halley.«
»Sie haben ihr das Gesicht und die Brüste mit einem Messer zerschnitten. Sie haben ihr zwei Backenzähne samt Wurzeln ausgerissen. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Schmerz. Durchhalten. Durchhalten. Durchhalten.
»Nein, ich bin nicht zufrieden, aber ich weiß wenigstens, woran ich bin.« Sie schluckte. »Halley hat keine Spur? Keine Zeugen?«
»Nein.«
»Was ist mit dem Namen, den sie genannt hat? Cox.«
»Die Einwanderungsbehörde hat einen Mann namens Cox verzeichnet, der kürzlich hier eingetroffen ist. Aber der ist ein ehrenwerter Bürger und über siebzig, ein Philantrop. Außerdem glaube ich kaum, dass der Dreckskerl, der Dr.
Mulan
gezwungen hat, Sie anzurufen, es zugelassen hätte, dass sie Ihnen seinen Namen preisgibt. Vielleicht war sie einfach etwas verwirrt.«
»Keine Namen in ihrem Terminkalender?«
»Kein Terminkalender. Der ist zusammen mit den Patientenunterlagen verschwunden.«
»Wann wird Maria beerdigt?«
»Morgen früh um zehn. Ihre Mutter kommt heute Abend aus Puerto Rico hierher. Wollen Sie an der Beerdigung teilnehmen?«
»Selbstverständlich.«
»Das ist ganz und gar nicht selbstverständlich. In den vergangenen achtundvierzig Stunden sind zwei Morde begangen worden und beide haben etwas mit Ihnen zu tun. Irgendjemand will Sie unbedingt zu fassen kriegen. Und trotz allem wollen Sie zu dieser Beerdigung gehen, als wäre nichts geschehen.«
»Warum nicht?« Sie lächelte schief. »Sie werden schon für meine Sicherheit sorgen. Sie wollen doch nicht, dass irgendjemand außer Ihnen etwas über Marinth erfährt. Das ist doch der Grund, warum Sie mir nicht mehr von der Seite weichen, stimmt’s?«
Er zuckte zusammen. »Sicher. Wenn nicht, würde ich Sie den Leuten, die Ihre Freundin abgeschlachtet haben, einfach ans Messer liefern. Was zum Teufel sollte mich das interessieren?«
Er war wütend. Vielleicht sogar verletzt? Sie wusste es nicht und sie war nicht in der Verfassung, Kelbys Gefühle zu analysieren. Sie kannte den Mann ja kaum.
Nein, das stimmte nicht. Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, war ihr klar, dass Kelby nicht der verwöhnte, von Ehrgeiz zerfressene Mann war, den sie sich vorgestellt hatte. Er war hart, aber er war nicht skrupellos. »Was ich gesagt habe, war unbedacht. Wahrscheinlich bin ich einfach von Natur aus misstrauisch.«
»Allerdings. Aber Sie haben Recht. Sie haben mich einfach nur verblüfft.« Er ging zur Tür. »Ich hole Sie morgen früh ab und begleite Sie zu der Beerdigung. Jetzt fahre ich erst mal zum Polizeirevier und versuche, noch ein paar Informationen aus Halley rauszuquetschen. Ich habe einen Freund auf dem Korridor postiert, der auf Sie aufpasst. Er heißt Nicholas Lyons.
Er ist groß und hässlich, hat lange, schwarze Haare und sieht aus wie Geronimo persönlich. Halten Sie Ihre
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