Bodin Lacht
und die Kinder, die ihm den Kasten des Instruments tragen wollten, als Gott der Familie. Tobias sucht stets nach Gelegenheiten für Auftritte, sagte Martin, er hat zwei kleine Kinder. Wie ernährt man als freier Musiker eine Familie? Hatte auch Evelyn Probleme, Auftritte zu finden?, fragte sich jetzt Liliane. Auf ihrer Homepage stehen nur wenige Termine. Sie hatte Erfolg, aber ich weià nicht, sagte Martin, ob sie von den Auftritten leben konnte, sie gab auch ein paar Musikstunden und lebte sowieso bescheiden. Ihre Mitbewohnerin sagte mir, dass sie umziehen wollte. Ja, sagte Liliane, sie hatte einen Mietvertrag für eine Wohnung in Berlin unterschrieben und wollte im Januar dort einziehen. Gehen Sie schon? Ja, antwortete Martin, ich bin todmüde, habe in der letzten Zeit schlecht geschlafen. Er rieb sich die Augen wie ein müdes Kind, und Liliane lächelte.
Liliane blieb für den zweiten Teil des Konzerts, um eine Zeit lang in den Schwingungen der Musik zu schweben. Sie sollte vielleicht öfter zu Konzerten gehen. Musik wäre eine Abwechslung von ihrem harten Alltag. Die Gruppe erntete groÃen Applaus, und als Tobias Wildenhain das letzte Stück Evelyn Gorda widmete, hallten Tobiasâ Worte in Lilianes Ohren: Sie wollte sich nicht binden, und sah wieder die Fesselspuren auf Evelyns Handgelenken.
FELD 15: FRÃHSTÃCK
Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküsst hatte, die Tür öffnete, um zu gehen, wollte ich sie zurückrufen und ihr sagen: »Gib mir noch einen Kuss«, aber ich wusste, dass sie dann auf der Stelle ihr strenges Gesicht zeigen würde, denn das Zugeständnis, das sie meiner Trauer und Aufregung machte, indem sie heraufkam und mit diesem Friedenskuss gute Nacht sagte, verdross jedesmal meinen Vater, der das Zeremoniell übertrieben fand.
M ARCEL P ROUST,
In Swanns Welt
Um Mitternacht rief er seine Mutter an, sie war ja ein Nachtvogel und ging noch später ins Bett als er. Sie meldete sich aber nicht. Er hatte sie die letzten Tage nicht zurückgerufen, so nahm er an, sie wollte ihm Gleiches mit Gleichem vergelten. Er hätte gern erfahren, was sie der Inspektorin erzählt hatte und ob sie wusste, dass Evelyn nach Berlin umziehen wollte, und ob sie von dem Agenten wusste. Er hatte schlecht geschlafen und Kopfschmerzen. Evelyn, Liliane Hoffmann und Tobias Wildenhain trippelten in seinem Kopf herum. Er klammerte sich an sein Kopfkissen, entsann sich der Zeit, als seine Mutter als Replik der Proustâschen Mama ihm einen Gutenachtkuss gab, süà und wohlriechend. Er wäre gern wieder Kind gewesen, weder Mädchen noch Junge, ein Kind halt, und trotz der Müdigkeit dauerte es lang, bis er sich schlieÃlich in eine lakritzschwarze Nacht treiben lassen konnte. Mitten in der Nacht wachte er aber auf: Seine Mutter war ihm erschienen, sie sprach zu Evelyn, schnatterte dabei wie Otta. Evelyn lachte Tränen. Er schlief irgendwann wieder ein, aber in der Morgendämmerung erblühte in seinem Kopf eine rote Tulpe, er sah, wie ihre Blätter nach und nach verwelkten, abfielen und ihre Staubblätter freilieÃen. Er versuchte, mit einem Nagel am Fruchtblatt zu kratzen, aus welchem Grund er dies machte, wusste er nicht, aber wahrscheinlich brauchte ein Biologiestudent Doktor Bodin nicht für die Erklärung des Traumes, denn man lernt schon in der sechsten Klasse, dass die Staubblätter männliche Fortpflanzungsorgane und die Fruchtblätter weibliche Fortpflanzungsorgane sind, und dass man die ersten als Androeceum bezeichnet, die zweiten als Gynoeceum. Er erwachte immerhin angeheitert aus diesem zweiten Traum. Die Freude dauerte keine drei Sekunden, denn sofort stach ihm die Erinnerung an Evelyns Tod mitten ins Herz. Und unmittelbar nachdem er einen Fuà in einem Slipper hatte, kam ein Anruf: Die Plauderlust seiner Mutter war kaum zu bremsen. Das Bedürfnis, ihm ihr Innenleben mitzuteilen, war überwältigend, es sprossen unaufhaltsam neue Triebe zu ihm, die sich in seinen Ohren verwurschtelten, und er verstand nicht recht, was sie ihm eigentlich sagen wollte, sodass er versprach, jetzt sofort bei ihr zu frühstücken. Er würde jetzt sofort losfahren. Sie bat ihn, Croissants zum Frühstück mitzubringen.
Sie war gut angezogen und geschminkt, ihr Gesicht sah aber ein wenig zerknautscht aus, auch sie hatte offensichtlich schlecht geschlafen. Der Tisch war fein gedeckt, und es roch nach Kaffee. Ich habe mit
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