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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Doktor Bodin gesprochen (sie nannte ihn jetzt immer Doktor Bodin), sagte sie und schob sich ein Stück Croissant in den Mund, er scheint mit dir zufrieden zu sein.
    Seine Mutter sprach, als hätte sie beim Elternsprechtag von seiner Zwei plus in Latein gehört. Sie schwieg nur kurz und kaute: Na gut, hoffen wir, dass es dir was bringt. Sie trank einen Schluck und stand plötzlich auf, Kind, ich muss mich bewegen, sagte sie, ich guck mal, wie frisch es draußen ist, und warf sich einen Kaschmir-Schal über die Schultern. Er sah durch das große Fenster, wie sie auf der Terrasse hin- und herlief und dann weiter zum Teich, wo sie sich vermutlich in einen schweigsamen Dialog mit Otta verstrickte, und wusste, was man von ihm erwartete. Er holte den »Roman meines Lebens«, der offen auf dem Kaminsims lag, aß sein Marmeladencroissant beim Lesen und würgte. Er war mit einem Sprung auf der Terrasse.
    Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Evelyn dich vor ihrem Tod besucht hat?
    Ach, ich war so schockiert, dass es mir entfallen ist.
    Du lügst. Was wollte sie von dir?
    Ein bisschen plaudern. Und man sagt seiner Mutter nicht, dass sie lügt. Ich bin nicht verpflichtet, dir alles zu erzählen, mein Sohn. Sie ist nicht lange geblieben, wir haben uns über dies und das unterhalten …
    Ãœber dies und das?
    Und dann ist sie weg, denn sie war mit jemandem verabredet.
    Mit wem war sie verabredet? Hat sie einen Agenten erwähnt?
    Nein, glaube ich nicht. Oder doch. Sie war konfus, ich habe einiges nicht verstanden.
    Du hast einfach nicht zugehört, nicht zugehört, Mama, wie konntest du?
    Sei nicht so melodramatisch! Ich habe dich nicht gebeten, sagte sie hochmütig, in meinem Tagebuch herumzuschnüffeln, wenn das, was ich schreibe, dir nicht gefällt, dann lass es lieber, Martin. Gerade von meinem facettenreichen Sohn könnte ich mehr Verständnis erwarten, und mehr Hilfe.
    Scheiße, sagte er.
    Sie machte erschrockene Augen, diese Art von Kraftausdrücken hatte er vor ihr seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht benutzt. Er differenzierte sofort: Als Mann und Frau habe ich vielleicht eine nuancenreiche, doppelte Persönlichkeit, liebe Mama, ich mache aber keine doppelzüngigen Aussagen wie du. Lass uns reingehen, ich friere.
    Sie frühstückten weiter, und er bat sie, ihm, wenn es ging, so genau wie möglich zu erzählen, was sie von Evelyn vernommen hatte. Sie könne sich aber an nichts Brauchbares erinnern, wiederholte sie. Von ihrem Besuch habe sie der Polizei erzählt, und ja, sie habe selbstverständlich auch erwähnt, dass er an dem Abend auf einen Sprung gekommen war. Die Polizei habe gefragt, ob Evelyn ihr Handy hier vergessen hatte. Hatte sie nicht.
    Sie hielt mit der rechten Hand ihre Tasse, wie immer mit dem abstehenden kleinen Finger und blies auf ihren kalt gewordenen Kaffee. Ich möchte so gern die Zeit zurückdrehen, sagte sie. Der Nachmittag mit Evelyn ist verschwommen, und, ja, es tut mir so leid. Eine Träne rollte ihr jetzt auf die Wange. Auch ich möchte eine andere sein, schluchzte sie. Er erschrak, denn er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er sie hatte weinen sehen. Einen kurzen Augenblick wollte er ihre freie Hand in seine nehmen und traute sich doch nicht. Ich weiß es, sagte er, und auch, dass es nicht geht.
    Später ging er zum Heft und schrieb unterhalb ihrer Zeilen: Du bist nicht alt genug, um vergessen zu dürfen. Kuss, Martin.

FELD 16: DAS BÖSE
    Das Böse ist keine eigene Macht, sondern nur ein Mangel. Ein Mangel an Vernunft.
    R ÜDIGER S AFRANSKI,
Das Böse oder Das Drama der Freiheit
    In den Tagen danach versuchte Martin, sich von seiner Mutter und von allen Begebenheiten der letzten Tage zu distanzieren, seine einzige Chance, sich von den Ereignissen nicht überrollen zu lassen und von den Rätseln, die ihm über den Kopf wuchsen. Evelnys Tod war unerträglicher als am ersten Tag, und deshalb versuchte er nicht mehr, ihn zu ertragen: Er verdrängte ihn mit Arbeit, ging früh morgens ins Schwimmbad, schwamm sich wach, begnügte sich damit, ab und zu Menschen auf den Laubengängen des Hochhauses gegenüber zu beobachten (ein Kretin hatte eine deutsche Fahne neben der Eingangstür angebracht, möglicherweise um sich von seinen ausländischen Nachbarn links und rechts, oben und unten abzusondern, ein kurdisches Kind versuchte vergeblich, die schwere Metalltür zwischen Laufgang

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