Bodin Lacht
und dem Treppenhaus zu öffnen, eine alte Frau, die seit Monaten dasselbe Kleid trug, ging mit dem Rollator auf und ab). Er arbeitete übertrieben diszipliniert an seiner Masterarbeit und ging sogar (ohne Verpflichtung) in eine Botanikvorlesung über die Flechte, die ihn an sich selbst erinnerte. Er hatte danach seinen zweiten Termin bei Herrn Doktor Bodin. Der Therapeut war beim Friseur gewesen und trug das graue Haar sehr kurz. Ein hellerer, dünner Hautstreifen lief oberhalb der Stirn und betonte das Rötliche des Gesichtes. Auch die Augenbrauen waren gestutzt. Er sah jünger und weniger würdevoll aus. Hinter seinem Schreibtisch warf er Martin einen ohnmächtigen Blick zu. Alles klar, junger Mann? Martin erzählte im Eiltempo von seinem Traum, gab Bodin danach einen Schnellkurs in Botanik, und beide stimmten darin überein, dass man in der Narbe am Ende eines dreiteiligen Fruchtblatts die Widerspieglung eines kleinen Penis sah, und dass Martin also auf die Selbstbestäubung einer Pflanze neidisch war. Herr Doktor Bodin gähnte hinter vorgehaltener Hand und Martin tat es ihm nach. Der Therapeut hatte sichtlich keine Lust, zur Sexualität der Blumen abzudriften, und sagte, er brauche zu den Schokoladentrüffeln dringend einen Cognac, ob auch Martin? Ja, gern. Er stand auf, füllte zwei Cognacgläser und legte sich wie bei Martins erster Sitzung auf die Couch, Junge, ich mache es mir gemütlich, ich höre dir trotzdem zu, aber ich erzähle dir vorher von meinen eigenen zwei Träumen von heute Nacht, denn, stell dir das vor, ich habe wieder angefangen zu träumen und freue mich darüber. Ich träumte von einem Kind, das ich seiner Mutter wegnehmen wollte, weil ich Lust auf ein kleines Kind hatte, ein schönes Kind, das vielleicht drei oder vier Jahre alt war. Ich erzählte ihm, dass ich wirklich alles gemacht hätte, um es seiner Mutter abzunehmen, dass sie das ablehnte, aber da sie sehr wenig Zeit für ihren kleinen Sohn hatte, wollte sie gern, dass ich mich öfter um ihn kümmerte. Und stell dir das vor, ich drückte das Kind an mich und streichelte es, ein Genuss. So mollig warm und zufrieden war es. Wir standen aber plötzlich an einem ziemlich schmutzigen Tümpel, den ich mit dem Kind überqueren musste.
Erzählen Sie ruhig weiter, sagte Martin.
Das warâs. Später aber, und es war Morgendämmerung, träumte ich, dass ich mich über einen Brunnen lehnte, ein unergründliches schwarzes Loch, und ich schmiss Leute hinein, nein, keine Leute, eine Unmenge Schatten, Schatten von Menschen, nein, ich selbst warf sie nicht, ich bewegte wie ein Dirigent die Arme, und sie flogen leicht da hinein und substanzlos, schwarz wie Ruà flogen sie an mir vorbei und fielen und verschwanden ohne Ende.
Könnte es nicht sein, fragte Martin, dass Sie bei dem Versuch, Ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, all Ihre Patienten hinuntergestürzt haben?
Sehr möglich, Herr Doktor Vanderbeke, ich fürchte jedoch, dass ich selbst der Brunnen bin, in den all diese Schatten fielen.
Herr Doktor Bodin beklagte sich dann, dass er als Therapeut so primitive, so schnell erschlieÃbare Träume erlebte, er hätte viel mehr Freude an subtileren Traumgebilden und verhüllten Symbolen. Das Kind sei natürlich er selbst gewesen und dass seine Mutter keine Zeit gehabt hätte, sich um ihn zu kümmern, war auch klar, sie sei Putzfrau gewesen und habe sogar eine Allergie gegen manche Putzmittel entwickelt, ständig sich rot pellende Hände gehabt, denn auch Gummihandschuhe vertrug sie schlecht. Ich bekomme vor Putzfrauen eine Gänsehaut, sagte er, sie personifizieren für mich den Schmutz und das Leid dieser Welt, sie sind Fleischwerdungen Christi, der alle Sünden der Welt am Kreuz auf sich geladen hat, die armen Putzfrauen laden mit ihren Lappen den Schmutz der Reicheren auf sich, Schmutz und Sünde, Schwamm drüber, damit den Reicheren Zeit für ihre Exkurse ins Reich der Schönheit und der Wichtigkeit bleibt, die Putzfrauen haben rote Hände unter Allergie fördernden Gummihandschuhen und schrubben sich die Seele mit Ajax, ihre Tränen flieÃen mit Fensterklar. Sie reiben an Verdauungsspuren der anderen, sehen ihre Zukunft im Gully. Bodin stockte, und Martin sah, wie seine Züge sich entspannten. Deine Mutter hat mich als Gegensatz immer sehr angezogen, die groÃe Dame mit ihrer Villa, ihre noble Art, ihr
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