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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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sabbernden Menschheit durchgekaute. Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine Kette von Frauen und Männern, die sich als einzigartig in ihrem Unglück wähnten, aber dasselbe jämmerliche Poplied geigten: Niemand liebt mich, niemand liebt mich, tralala tamtam, niemand, niemand versteht mich, tralala tamtam, ich bin ein Opfer dieser herzlosen Welt, tralala bumm bumm. Bodin schnippte rhythmisch mit dem Daumen. Tralala bumm bumm. Ein Hampelmann auf der Couch.
    Warum sind Sie so zynisch?
    Weil ich meine Zeit und mich selbst verloren habe. Man hechelt seinem wertvollen Ich ein Leben lang nach. Unter welchem Bett, in welcher Geheimschublade ist es denn versteckt? Dein Ich wirbelt über alle Berge, du keuchst ihm durch die Wüste hinterher. Aber dein Ich geht flöten, geht baden. Hält man Wasser zwischen den Fingern fest?
    Nicht alle Psychotherapeuten werden am Ende ihrer Karriere zynisch, warum also Sie? Ich erinnere mich und denke zu viel. Je blöder, desto glücklicher.
    Warum haben Sie nie geheiratet?, Martin wunderte sich, dass er das bisher nie gefragt hatte.
    Bodin lachte: Du machst keine Psychotherapie deines Patienten, Martin, sondern ein Interview, auch gut. Wir denken doch beide kategorienfrei, unseren Rollen haftet eine besondere Flexibilität an. Meine Patientinnen und ihre Gatten haben mir die Ehe vergrault, mein Sohn. Das Bündnis der Ehe war zu oft der Stolperstein ihrer fragilen Persönlichkeit, die in tausend Stücke zerbrach. Außerdem fühle ich mich eher wie jemand auf der Durchreise.
    Und ich fühle mich wie ein Joker in Ihrem Kartenspiel, protestierte Martin, ich muss jetzt gehen.
    Leider konnte er nicht aufstehen, saß fest und wusste nicht durch welchen klebrigen Zauber. Du erwartest von mir, dass ich alle meine Karten offenlege, sagte Bodin, der ihn denken hörte, oder vielmehr, dass ich dir meine Sünden beichte. Du bist aber nicht mein Beichtvater.
    Ich dachte, meine Rolle sei flexibel, Herr Doktor Bodin. Was ist für Sie eine Sünde? Gute Frage, antwortete Bodin, du machst Fortschritte. Es gibt für mich keine Sünde. Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, Mangel an Einsicht, Gedankenlosigkeit, Geistesarmut vielleicht, und ich könnte locker weitere hundert Bezeichnungen dafür finden. Ich will aber nicht den Feinrhetoriker spielen und weiß, was du meinst. Eine Sünde ist es, die eigenen Sünden totzuschwätzen. Gib mir eine Praline. Du entwickelst dich gut als Therapeut, schade, dass ich weggehe.
    Sie gehen weg?, fragte Martin. Das dürfen Sie doch nicht!
    Bodin lachte laut: Du verdächtigst mich, Evelyns Mörder zu sein, Martin, und denkst, ich will mich der Justiz entziehen. Oder warum darf ich nicht weg?
    Martin errötete: Und wohin wollen Sie?
    In den Urlaub, ich möchte eine ehemalige Patientin in den Schweizer Alpen besuchen, ein kleines Dorf am Ende eines tiefen Tals. Es ist zwar eine sehr spontane Entscheidung gewesen, aber ich finde, ich habe mir Urlaub verdient. Ich fahre morgen.
    Ein bizarrer Kloß im Hals zwang Martin, diese Worte herauszuspucken: Um diese Jahreszeit wollen Sie in Urlaub fahren? Fahren Sie denn Ski?
    Aber nein, Junge, du weißt doch, dass ich unsportlich bin. Ich werde spazieren gehen.
    Er gähnte und reichte Martin eine schlappe Hand hin. Ach, Martin, du brauchst mich nicht, sage es deiner Mutter, du bist der ausgeglichenste Mensch, den ich kenne, deine zwei geschlechtlichen Pole sind die Schwimmflügel, die dich auf der Oberfläche halten. Du bist unser Inuit. Du weißt ja: Inuit heißt Mensch. Grüße trotz allem Paula. Ich wünsche ihr viel Spaß mit ihrem jungen Vogel und ich werde ihr eine Ansichtskarte schicken.
    Vom Dach gegenüber aus krächzten stumm die Krähen. Martin sah Otta vor sich, wie sie ihre Runden im Teich seiner Mutter drehte, und hatte Sehnsucht nach Ruhe, nach Wasser, nach sich im Wasser spiegelnden Wolken, nach Vergessenheit.
    Martin ging und Bodin blieb eine Weile liegen, schlaff. Er musste seinen Koffer packen. Das Kofferpacken erinnerte ihn aber immer an den Tod seiner Mutter. Wie oft stieg sie in seinen Gedanken empor, die putzende Mutter, der er seine brillanten Zeugnisse brachte wie Gläubige ihre Opfergabe einem Idol. Wir waren arm, aber glücklich, hatte ihm die Mutter im Krankenhaus gesagt. Er hatte ihr nicht widersprochen, sollte sie mit diesem tröstenden Klischee sterben, die Mutter, deren Hände auf der Decke nach

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