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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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fehlte Übung mit der Karte, um auf dem Papier die Weite richtig einzuschätzen und die Form dieser Gipfel von der Realität auf die Karte zu übertragen. Als er die Karte zusammenfaltete, spürte er aber an Schluckschwierigkeiten, dass seine Begeisterung zusehends in den kalten Schatten der Einsamkeit zurückkroch, und er ärgerte sich über seine Launenhaftigkeit (aber diese Art von Gefühlsumschwung bei sich kannte er zu Genüge). Er konnte die undefinierbare Angst nicht verjagen, die möglicherweise nur mit den Hunden zu tun hatte. Er verlor den Mut, die Tour zu vollenden, und kehrte über denselben Weg zurück, redete sich ein, dass er sich die am Morgen erblickte Landschaft wirklich einprägen wollte, anstatt einen neuen Teil der Strecke zu erkunden. Das könnte er auch morgen machen. Beim Hinabsteigen trampelte er in umgekehrter Richtung auf seinen eigenen Spuren und fand es ein bisschen schade, dass er sie jetzt zertrat. Es blieb ihm noch viel Zeit, so machte er wieder den kleinen Abstecher zum bizarren Kreis der warmen Quelle und bereute es bald: Es stieg aus der tiefsten Vergangenheit eine fleischfarbene Erinnerung in sein Bewusstsein: das blutlose Gesicht der kleinen Clothilde, dem leichtfertigen Kind, das an einem heißen Sommertag im Swimmingpool ertrunken war; nach dem Verzehren von vier oder fünf Waffeln mit Kirschen und Schlagsahne obendrauf war sie zu schnell ins kalte Becken gesprungen, so wurde es den Eltern vom Notarzt erläutert, die auf Jürgens Geschrei hin hinausgestürzt waren. Er hatte als Erster bemerkt, dass Clothilde nicht mehr hochkam, und war auch sofort gesprungen, nicht schnell genug vielleicht, er hatte sich gern eingebildet, dass das Mädchen wieder Theater spielte. Heute noch sah er den skeletthaften Rücken, den mageren Hintern, das treibende Haar, die Beine schon Gebeine, und, als er endlich das Mädchen an den Rand gezogen hatte, sie festhielt und schreiend die Eltern des Mädchens rief, die es herauszerrten, zu spät, ein Kind, das bis vor Kurzem fürchterlich lebendig gewesen war, das sexy Mädchen spielte, obwohl es mit seiner Zahnspange, der Brille, der schmalen Oberlippe und der gekniffenen Nase ihm unmöglich zu gefallen vermochte, auch wenn man sich vorstellte, dass sie in zwei, drei Jahren vielleicht ein hübsches Mädchen abgegeben hätte, war sie doch in seinen Augen nur Gegenwart, ein vierzehnjähriges Luder, hässlich, ekelhaft, mit ihrer obszönen Art, seine Hand auf ihre Muschi zu pressen (wie er dann aufgeregt versuchte, mit seinen schmutzigen Fingernägeln in ihre Haut zu greifen und ihr weh zu tun, sodass sie beide in ihrer Geilheit Mühe hatten, nicht zu schreien, wenn die Eltern nebenan saßen). Und Clothildes spöttische Augen blitzten auch wieder in seinem Gedächtnis, als sie kurz vor ihrem Sprung seine Mutter erblickte, die auf allen vieren versuchte, die vermoosten Fugen der Kacheln der Swimmingpoolterrasse zu reinigen. Wie das kleine Biest auflachte, als die Putzfrau mit ihrem Eimer in die Küche ging, warum, sagte sie, trägt deine Mutter solche fürchterlichen Strümpfe? Das ist ja sowas von hässlich! Auch er hatte die Kniestrumpfe aus Nylon erblickt, die man unter ihrem längeren Rock für Strumpfhosen oder lange Strümpfe halten konnte, nur wenn die Mutter sich kniend nach vorn streckte, um eine weitere Rille zu kratzen, rutschten Rock und Schürze ein wenig hoch und man konnte die lächerlichen Kniekehlen der Mutter sehen, das rötliche, aufgeschwollene Fleisch um den Gummi des Strumpfes, ja, elegant war das nicht gerade. Jürgens Mutter, die seine Abneigung gegen Clothilde missbilligte (wie naiv seine Mama doch war!), fragte ihn öfter, was er gegen die »Kleine« habe, und warnte ihn davor, es sich mit ihr zu verderben, so nette Eltern habe das Kind, großzügige Eltern, die ihn ins Kino und sogar in die Weihnachtsvorstellung des Theaters mitnahmen, die ihm angeboten hatten, ihn im Sommer in die Toskana mitzunehmen, stell dir vor, Junge, solche Ferien werde ich dir nie schenken können. Herztod, sagte der Arzt. Das Schluchzen der Mutter hallte auf der ganzen Straße und bald sammelten sich alle Einwohner des Viertels vor dem Haus. Der junge Jürgen hatte Waffeln und Kirschen, Wasser und Galle gekotzt, er hockte auf dem Boden, den Kopf im Schoß, von Selbsthass geschüttelt, von Trauer und Scham durchbohrt. Er umfasste seine

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