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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Knie fest mit den Armen, die Stirn gegen die Schenkel, als Kugelgürteltier zusammengerollt, saugte allerdings mit Genuss die eigene, warme Haut. Es war sein erster Trauerfall, die erste hautnahe Begegnung mit dem Tod im gleißenden Licht des Sommers (seit diesem Tag sah er den Tod als große weiße Frau mit weißem Gewand und wächserner Haut), ein Albtraum, den man ab und zu erleben muss, aushalten muss, damit das Leben weitergeht, erträglich ist, ein Preis, den man dem Schicksal bezahlen muss, um seinen Weg weitergehen zu können, so in der Art sprach später seine Mutter.
    Sie wrang weiterhin bei dem Lehrerpaar ihr Aufwischtuch aus. Er wollte zuerst das Haus der Lehrer nicht mehr betreten und dachte, er würde es nie mehr tun, Clothilde springe dann aus jeder Tür, würde aus jedem Fenster winken, vor jedem Spiegel das Röckchen heben, er bildete sich ein, er würde zusammenbrechen, wenn er nur an ihrem Kinderzimmer vorbeiging, alle Orte, wo er sie auf ihren Befehl befummelt hatte, mussten vermieden werden, Chlotildes Eltern aber fragten nach ihm, vermissten ihn, die Mutter flehte, und nach einigen Monaten betrat er zu ihrer Freude wieder das Haus. Sie schenkten ihm sogar ein paar Sachen von Clothilde, ihr Fahrrad, ihr Radio, ihre Platten, die er höflich dankend mit gesenktem Kopf annahm, aber unwillig gebrauchte. In dieser Zeit lernte er den für ihn schlimmsten Spruch (woran kann man sich halten?, wenn nichts endgültig ist, wenn die Zeit alles wegwischt?) kennen: Das Leben geht weiter, meines, deines, jedermanns Leben, die kleine Tote lebt weiter, solange wir noch leben und an sie denken. Clothilde steckte in der Tat in ihm wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse, auch wenn er sie durch Fußball oder verbissenes Lernen vertrieb. Er füllte zwar sein Leben mit anderen Leben, Biografien von Physikern, Biologen, Ärzten und Philosophen, Politikern und anderen Königen der Welt, mit Sprachen und Gleichungen, mit Zahlen, Ländern und Geschichten, Theorien und Theoremen, aber Clothilde verließ ihn nie. Der gute Schüler übersprang eine Klasse und wurde zum exzellenten Abiturienten, zum hervorragenden Studenten, Clothilde aber begleitete ihn immer. Das Wasser, das das Gedächtnis der Toten hätte aufbewahren müssen, war längst abgelaufen. Der Swimmingpool war zertrümmert, Blumenbeete umrundeten den ovalen Rasen, verdeckten aber keine Erinnerungen. Dafür sprach Clothildes Mutter mit ihrer Putzfrau über das verlorene Kind, vielleicht, weil sonst keine Freundin es ewig hören wollte, und seine Mutter putzte nur noch ihre Nase, wischte die Tränen der anderen Mutter auf, und hörte zu, hörte zu, hörte zu, ach, wie gut und geduldig die Mutter war. Zuletzt wurde sie nicht mehr für das Putzen der Fliesen, sondern nur für das Zuhören bezahlt, für das Aushalten einer langen, traurigen Geschichte, die sich um Clothildes Leben wie ein frisch erblühter Totenkranz wand, sie wurde für das Trocknen der Tränen, für ein paar beruhigende, einfache Worte, einen Druck der Hand bezahlt, jeden Montag und Mittwoch von eins bis fünf war sie ein großes, empfängnisbereites Ohr und – zwölf Jahre vor ihrem Sohn – eine effiziente Therapeutin. Sie gab den Erzählungen der Lehrerin kleine Stichwörter wie Sprungbretter, diskrete Fragezeichen wie Klettergerüste. Clothildes Vater, der ohnehin Philosophie unterrichtete, spezialisierte sich auf das Gebiet »Tod« und veröffentlichte ein Opus namens »Die Frage«. Der junge Jürgen Bodin blieb der Lastesel, der ein Leben lang einen kleinen weißen Sarg hinter sich herschleppen musste, falsch, es war der Sarg, der selbständig den Esel Jürgen Bodin hinter sich herschleppte, das Monster, dem nur eins übrig blieb, sich in sich zusammenzurollen, sich am Arschloch zu beschnüffeln und abzuwarten, bis er vor lauter Lernen das Weinen verlernen lernte.
    Es war noch zu früh, um nach Hause zu gehen und Bodin trabte wieder durch das Dorf, hielt sich länger vor dem Haus eines Bergführers auf, ohne sich zu trauen zu klingeln. Irgendwann musste er doch seine Wirte fragen, ob hier oder in einem benachbarten Dorf eine Deutsche wohnte, war er denn nicht extra deswegen verreist?

FELD 47: DER GLANZ DES TROTTOIRS
    Schade, Scheiße, wie kann das passieren?
Doch wir kommen zurück, um uns zu revanchieren
    D IE T OTEN H OSEN
Schade, wie kann das

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