Body Farm
Reed habe ich kurz gesprochen. Er schien nicht besonders engagiert.«
»Stimmt. Unter normalen Umständen hätte Reed dem Beamten aus Hanover... äh, Sinclair, bei seinem Erscheinen gesagt, er habe alles im Griff. Dann hätte er alle Messungen und Skizzen selbst gemacht. Doch beim Anblick des niedrigen dreistelligen Kennzeichens klingelte es bei ihm. Er weiß, der Wagen muß einem höheren Tier im Staat gehören. Also bekommt Sinclair die Sache in die Hand, und Reed geht ans Funkgerät und ans Telefon, verlangt einen ranghöheren Beamten, fragt beim Kraftfahrzeugregister nach der Nummer.
Bingo. Er erfährt, daß es Ihr Wagen ist, und sein erster Gedanke ist, daß Sie die Fahrerin waren. Nun können Sie sich vorstellen, was dann da draußen los war.«
»Ein Tohuwabohu.«
»Genau. Es stellte sich übrigens heraus, daß Sinclair frisch von der Akademie ist. Ihr Autowrack war sein zweites.«
»Selbst wenn es sein zwanzigstes gewesen wäre, verstehe ich nicht, wie ihm der Fehler unterlaufen konnte. Es gab keinen Grund, sechzig Meter vor der Stelle, an der Lucy von der Straße abkam, nach Schleuder- oder Bremsspuren zu suchen.«
»Und Sie sind sicher, es war die Spur eines ausscherenden Fahrzeugs?«
»Absolut. Man macht Abdrücke und erkennt, daß die Spur auf dem Randstreifen mit der übereinstimmt, die auf die Fahrbahn zurückführt. Solch eine Spur entsteht nur, wenn das Fahrzeug durch eine Einwirkung von außen zu einer plötzlichen Richtungsänderung veranlaßt wird.«
»Und dann etwa sechzig Meter weiter die Beschleunigungsspur«, dachte er laut weiter. »Lucy trifft von hinten ein Stoß, sie tritt auf die Bremse, fährt weiter. Sekunden später gibt sie plötzlich Gas und verliert die Kontrolle.«
»Wahrscheinlich im gleichen Augenblick, als sie 911 wählt«, sagte ich.
»Ich setze mich mit der Mobiltelefongesellschaft in Verbindung und besorge mir den genauen Zeitpunkt ihres Anrufs. Dann finden wir den Inhalt des Gesprächs auch auf dem mitgelaufenen Band.«
»Jemand hing ihr mit aufgeblendeten Scheinwerfern an der Stoßstange. Sie klappte den Innenspiegel gegen die Blendung um und schloß das Sonnenrollo an der Heckscheibe. Das Radio oder den CD-Player hatte sie nicht an, weil sie höchst konzentriert war. Sie war hellwach und hatte Angst, weil ihr jemand im Nacken saß.
Diese Person rammte sie schließlich von hinten, und Luc y geht auf die Bremse«, fuhr ich mit der Rekonstruktion des Geschehens fort. »Sie fährt weiter und merkt, der Verfolger kommt wieder näher. Sie gerät in Panik, tritt das Gaspedal durch und verliert die Kontrolle. All das passiert binnen weniger Sekunden.«
»Wenn die Spuren, die Sie gefunden haben, passen, kann es sicherlich genau so abgelaufen sein.«
»Werden Sie sich darum kümmern?«
»Darauf können Sie sich verlassen. Was ist mit den Farbpartikeln?«
»Ich bringe sie zusammen mit dem kaputten Rücklicht und allem anderen ins Labor und bitte dort darum, daß das alles ganz schnell untersucht wird.«
»Setzen Sie meinen Namen auf die Begleitpapiere. Sie sollen mich gleich anrufen und mir die Resultate durchgeben.«
Bis ich oben in meinem Arbeitszimmer das Telefon wieder auflegen konnte, war es fünf Uhr nachmittags geworden und bereits dunkel. Benommen schaute ich mich um. Ich kam mir vor wie eine Fremde im eigenen Haus. In meinem Magen rumorte es, eine Mischung aus bohrendem Hunger und Übelkeit, und ich trank einen Schluck Magenbitter direkt aus der Flasche und suchte im Arzneischrank nach einem Mittel gegen mein Magengeschwür. Im Laufe des Sommers war es zwar verschwunden, aber es kam, im Gegensatz zu alten Liebhabern, regelmäßig wieder. Beide Telefone läuteten. Ich hatte sie auf Anrufbeantworter geschaltet. Während ich in der Badewanne lag und einen Schluck Wein auf die Medizin trank, hörte ich das Faxgerät rattern. Ich hatte so viel zu erledigen. Natürlich würde meine Schwester Dorothy, Lucys Mutter, sofort kommen wollen; Krisensituationen zogen sie stets an, da sie ihre Lust an Dramatik befriedigten. Zweifellos würde sie sie als Material benutzen, und in ihrem nächsten Kinderbuch kamen dann ein Mädchen und ein Autowrack vor. Die Kritiker würden von Dorothys Klugheit und Einfühlsamkeit schwärmen, denn ihren erfundenen Figuren war sie eine viel bessere Mutter als ihrer eigenen Tochter. Auf dem Fax standen Dorothys Flugzeiten. Die Ankunft ihrer Maschine sei morgen am späten Nachmittag, und sie werde zusammen mit Lucy bei mir wohnen.
»Sie wird
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