Böse Freundin (German Edition)
es für ihn wohl besonders schwer. Sein ganzes Leben lang hatte er eine Schwester gehabt, und auf einmal warst du weg.»
In der Zeit nicht da gewesen zu sein, die für ihre Familie mit Abstand am traumatischsten gewesen war, vermittelte Celia häufig das Gefühl, ein wichtiges historisches Ereignis verschlafen zu haben – wie die Belagerung von Leningrad beispielsweise oder die Weltwirtschaftskrise. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was wohl gewesen wäre, wenn sie nicht siebenhundert, sondern fünfzig Meilen entfernt studiert hätte.
«Davon hat er mir nie was gesagt», erwiderte sie.
«Wozu auch?», sagte Warren.
«Du hattest dich entschieden», sagte Noreen, «und vierzehnjährige Jungen sind nicht gerade Weltmeister im Mitteilen von Gefühlen.»
Celia kam sich vor wie bei einem Ehemaligentreffen mit Leuten, die sie nur vom Vorübergehen im Flur kannte.
«Dann wisst ihr vermutlich schon, dass Becky Miller in Scranton wohnt», sagte sie.
«Jem hat es erwähnt», entgegnete ihre Mutter. «Das kam für dich sicher überraschend.»
«Welche war noch mal Becky?», fragte Warren.
«Die Blasse, Traurige, die immer in so komplizierten Sätzen gesprochen hat», erklärte Noreen.
«Die, die alle Hauptstädte der Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge aufsagen konnte?»
«Genau.»
Celias Vater legte den Kopf schräg. «Das war die, die mich nicht witzig fand.»
«Ihr zwei habt so schön miteinander gespielt», sagte Noreen. «Und Becky hatte so viele Ideen! Sie war blitzgescheit, die Kleine. In Scranton hätte ich sie nicht unbedingt vermutet.»
«Wir haben uns in einem koscheren Deli getroffen», sagte Celia. «Sie ist jetzt streng religiös.»
«Tatsächlich?», fragte Noreen. «Weißt du, ich hab euch beiden manchmal vom Küchenfenster aus beim Spielen im Garten zugeschaut. Nicht als Aufpasserin, das war nicht nötig, so gut, wie ihr euch vertragen habt. Ihr wart wie Schwestern. Ich habe immer gedacht …» Sie lächelte. «Albern, aber so sind Eltern nun mal. Ich habe mir vorgestellt, Becky wäre die Freundin, die dir bleibt, auch als Erwachsene. Wer hätte gedacht …?» Sie schüttelte den Kopf. «Hast du sie denn überhaupt wiedererkannt? Nach all den Jahren?»
«Ihre Augen sind noch so wie früher», sagte Celia.
Warren deutete auf ihr Gesicht. «Der Augapfel ist als einziger Körperteil von Anfang an praktisch ausgewachsen.»
Es gab eines von Celias Lieblingsgerichten. Nachdem Huck ihr beigebracht hatte, dass gekochtes Gemüse nicht labbrig und Fleisch nicht durch und durch gleichfarbig sein musste, hatte sie sich zunächst quasi verpflichtet gefühlt, ihre Mutter als lausige Köchin hinzustellen. Dieses widerwillige Urteil – gefällt aufgrund kulinarischer Unsicherheit – wurde durch ihre langjährige Anhänglichkeit an Bohneneintopf mit Dosenzwiebeln bald revidiert. Weder die Neue Amerikanische Küche noch exotische Fusion Cuisine vermochten Celias Liebe zu den Kochkünsten ihrer Mutter zu mindern und ihr die Freude an schlichter Hausmannskost zu nehmen. Sie fragte sich, ob dieses spezielle Gericht als Friedensangebot gedacht war oder ihre Schuldgefühle noch weiter anheizen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es höchstwahrscheinlich schon für den letzten Abend auf dem Speiseplan gestanden hatte.
«Und, hattet ihr euch viel zu erzählen, Becky und du?», fragte ihre Mutter.
«Bestimmt», sagte ihr Vater. «Es ist doch immer schön, alte Freunde wiederzusehen.»
Das Gericht auf ihrem Teller wirkte verführerisch in seiner Schlichtheit. Dabei war die Portion eigentlich zu groß, sie entsprach eher mütterlicher Fürsorge als töchterlichem Appetit.
«Woher wusstest du damals, dass Becky traurig war?», fragte Celia.
Noreen seufzte. «Du hättest es nicht erkennen können, Gott sei Dank. Traurigkeit hieß für dich in dem Alter, eine Geburtstagsfeier zu verpassen oder keinen Nachtisch zu bekommen, aber Becky hat immer so gelacht, als wüsste sie, dass es nicht von Dauer sein würde. Sie hat mich an diese Bilder von den Kindern mit den großen, seelenvollen Augen erinnert. Weißt du, je länger ich darüber nachdenke, desto einleuchtender finde ich eigentlich, was aus Becky geworden ist. Bei ihr hatte ich immer ganz stark den Eindruck, dass sie mit dem, was sie hatte, nicht zufrieden war.»
Sie nickten gleichzeitig. Einen Moment kam es Celia vor, als blicke sie in einen Spiegel. Sie erkannte ihre eigene Scheu in Noreens Lächeln, in den feinen Linien, die ihre
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