Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
mal, da habe ich doch irgendwas gelesen … ›Unterwegs‹ oder ›Auf dem Weg‹ oder ›Am Kreuzweg‹. Irgend so was, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Schon lange her, ungefähr fünf Jahre. Keine Zeit.«
Es folgte ein längeres Schweigen.
»Ich habe, als ich hierherkam, ihnen allen versichert, daß Sie ein außerordentlich kluger Kopf sind, und jetzt sind alle von Ihnen, wie es scheint, völlig begeistert.«
»Ich danke Ihnen«, entgegnete Pjotr Stepanowitsch gelassen.
Das Déjeuner wurde gebracht. Pjotr Stepanowitsch machte sich mit außerordentlichem Appetit über das Kotelett her, verzehrte es im Handumdrehen, trank den Wein aus und schlürfte den Kaffee hinunter.
“Dieser Flegel”, Karmasinow beobachtete ihn verstohlen und nachdenklich, während er den letzten Bissen kaute und das letzte Schlückchen trank, “dieser Flegel hat wahrscheinlich sofort die Spitze in meinem Satz verstanden … und natürlich auch das Manuskript in einem Atemzug gelesen, und er lügt nur aus Berechnung. Aber es kann ja sein, daß er gar nicht lügt, sondern ehrlich dumm ist. Mir gefällt es, wenn ein genialer Mensch partiell dumm ist. Ist er unter ihnen vielleicht ein Genie? Der Teufel soll ihn holen!”
Er erhob sich vom Sofa und nahm seine Wanderung aus einer Zimmerecke in die andere auf, um sich Motion zu verschaffen, wie er es täglich nach dem Frühstück zu tun pflegte.
»Reisen Sie bald ab?« fragte Pjotr Stepanowitsch von seinem Sessel aus und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich bin hierhergekommen, um mein Gut zu verkaufen, und richte mich jetzt nach meinem Gutsverwalter.«
»Sie sind doch, wie man sagt, hierhergekommen, weil Sie dort nach dem Krieg mit dem Ausbruch einer Epidemie rechneten?«
»N-nein, nicht eigentlich«, fuhr Herr Karmasinow fort, indem er voller Wohlbehagen seine Sätze skandierte und bei jeder Wendung von einer Ecke zur anderen munter das rechte Beinchen schwenkte, allerdings fast unmerklich. »Ich habe tatsächlich vor«, er lächelte nicht ganz ohne Gift, »so lange wie möglich zu leben. Der russische Herrenstand verbraucht sich eigentümlich schnell, in jeder Beziehung. Ich aber möchte möglichst spät verbraucht sein und siedle jetzt für immer ins Ausland um; dort ist das Klima besser und alle Bauten aus Stein und alles stabiler als bei uns. Solange ich lebe, wird Europa noch vorhalten, meine ich. Und was meinen Sie?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Hm, wenn dort wirklich Babylon fallen und untergehen sollte (worin ich mit Ihnen vollständig übereinstimme, obwohl ich glaube, daß es vorhalten wird, solange ich lebe), so ist bei uns in Rußland einfach nichts da, was fallen könnte, bildlich gesprochen. Bei uns werden keine Mauern einstürzen, sondern alles wird sich in Morast auflösen. Das heilige Rußland kann weniger als sonst etwas auf der Welt irgend Widerstand leisten. Das einfache Volk hält sich noch mehr schlecht als recht dank des russischen Gottes; aber der russische Gott soll, den letzten Erkenntnissen zufolge, ziemlich unzuverlässig geworden sein und hat sich sogar kaum gegen die Bauernreform behauptet, jedenfalls hat er ziemlich heftig gewackelt. Und dann die Eisenbahnen, und dann … an den russischen Gott glaube ich überhaupt nicht mehr.«
»Und an den europäischen?«
»Ich glaube an gar keinen. Man hat mich vor der russischen Jugend verleumdet. Ich habe stets mit allen ihren Bewegungen sympathisiert. Man zeigte mir die hiesigen Proklamationen. Sie werden verständnislos aufgenommen, weil alle sich an der Form stoßen, aber alle sind von ihrer Macht überzeugt, obwohl man es sich nicht eingesteht. Man stürzt seit langem schon, und alle wissen seit langem, daß es nichts gibt, woran man sich festhalten könnte. Ich bin schon deshalb von dem Erfolg dieser geheimnisvollen Propaganda überzeugt, weil Rußland jetzt derjenige Ort auf der Welt ist, wo alles geschehen kann ohne den geringsten Widerstand. Ich verstehe nur zu gut, warum die vermögenden Russen alle ins Ausland strömen, von Jahr zu Jahr mehr. Das ist nichts weiter als Instinkt. Wenn das Schiff sinkt, verlassen es zuerst die Ratten. Das heilige Rußland ist ein Land aus Holz, arm und … gefährlich, in seinen höheren Schichten ein Land ehrgeiziger Armen, und wohnt in überwiegender Mehrzahl in Häusern auf Hühnerbeinen . Ihm wird jeder Ausweg recht sein, man muß es ihm nur schmackhaft machen. Allein die Regierung will noch Widerstand leisten, aber sie fuchtelt nur im Dunkeln mit
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