Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
einem Knüppel und trifft die eigenen Leute. Hier ist alles dem Untergang geweiht und zum Tode verurteilt. Rußland, so, wie es ist, hat keine Zukunft. Ich bin Deutscher geworden und rechne mir das zur Ehre an.«
»Sie haben vorhin von den Proklamationen angefangen; sprechen Sie zu Ende, was halten Sie davon?«
»Man fürchtet sie, folglich haben sie Macht. Sie decken rigoros die Lüge auf und beweisen, daß wir nichts haben, woran man sich halten und worauf man sich stützen kann. Sie reden laut, wenn andere schweigen. Das Überzeugendste an ihnen (trotz der Form) ist dieser unerhörte Mut, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen, zeichnet die Russen aus. Jawohl, in Europa ist man noch nicht so mutig. Dort ist das Reich aus Stein, dort gibt es noch etwas, worauf man sich stützen kann. Soviel ich sehe und soweit ich mir ein Urteil erlauben kann, besteht das Wesen der russischen revolutionären Idee in der Verneinung der Ehre. Mir gefällt, daß man das so kühn und furchtlos ausspricht. Nein, in Europa wird man es noch nicht verstehen, aber bei uns fliegt man förmlich darauf. Für den Russen bedeutet die Ehre nichts als eine überflüssige Last. Und sie war ihm schon immer eine Last, während seiner ganzen Geschichte. Das legalisierte ›Recht auf Ehrlosigkeit‹ kann ihn am ehesten mitreißen. Ich gehöre noch der alten Generation an und halte, muß ich gestehen, an der Ehre fest, aber wohl nur aus Gewohnheit. Es ist möglich, daß ich nur aus Kleinmut an den alten Formen hänge; man muß sein Leben irgendwie zu Ende leben.«
Er hielt plötzlich inne.
“Sonderbar, ich rede und rede”, dachte er, “und dieser Mensch schweigt und beobachtet mich. Er ist gekommen, damit ich ihm eine direkte Frage stelle. Und ich werde es tun.”
»Julija Michajlowna hat mich gebeten, Sie auf irgendeine Weise zu überlisten und in Erfahrung zu bringen, was für eine Surprise Sie für den Ball übermorgen vorbereitet haben«, fragte Pjotr Stepanowitsch plötzlich.
»O ja, es wird wirklich eine Surprise sein, und ich werde tatsächlich überraschen …«, antwortete Karmasinow gravitätisch, »aber ich werde Ihnen das Geheimnis nicht verraten.«
Pjotr Stepanowitsch beharrte nicht länger.
»Hier soll es einen gewissen Schatow geben«, erkundigte sich der große Schriftsteller, »und ich habe ihn noch nie gesehen, stellen Sie sich das vor!«
»Ausgezeichnete Persönlichkeit. Warum?«
»Nur so, er soll über irgend etwas reden. War er es, der Stawrogin die Ohrfeige gegeben hat?«
»Er.«
»Und was halten Sie von Stawrogin?«
»Weiß nicht; ein Weiberheld.«
Karmasinow haßte Stawrogin, weil dieser es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, ihn einfach zu übersehen.
»Ein Weiberheld«, wiederholte er kichernd. »Wenn bei uns irgendwann einmal das verwirklicht werden sollte, was in den Proklamationen gepredigt wird, dann wird er wohl der erste sein, der am Ast hängt.«
»Vielleicht schon früher«, sagte Pjotr Stepanowitsch plötzlich.
»So gehört es sich auch«, stimmte Karmasinow zu, nun nicht mehr lächelnd und auffallend ernst.
»Das haben Sie schon einmal gesagt, und, wissen Sie, ich habe es ihm erzählt.«
»Sie haben es ihm erzählt? Wirklich?« Karmasinow lachte wieder.
»Er hat gesagt, wenn man ihn aufknüpfte, dann müßte man Ihnen eine Portion Stockhiebe verabreichen, aber nicht nur pro forma, sondern gründlich, wie man’s mit den Bauern macht, für Sie würde das reichen.«
Pjotr Stepanowitsch griff nach seinem Hut und erhob sich. Karmasinow streckte ihm zum Abschied beide Hände entgegen.
»Aber wie ist es«, piepste er plötzlich mit honigsüßem Stimmchen und ganz besonderem Nachdruck, wobei er Pjotr Stepanowitschs Hände immer noch in den seinen behielt, »wie ist es, wenn das Schicksal es so wollte, daß alles … was geplant ist … sich verwirklichte, dann … wann könnte das geschehen?«
»Woher soll ich das wissen?« antwortete Pjotr Stepanowitsch ziemlich grob. Beide sahen einander aufmerksam in die Augen.
»Annähernd? Ungefähr?« piepste Karmasinow noch süßer.
»Sie werden Zeit genug haben, Ihr Gut zu verkaufen und sich davonzumachen«, murmelte Pjotr Stepanowitsch noch gröber. Beide sahen einander noch aufmerksamer an. So verstrich eine Minute Schweigen.
»Anfang nächsten Mai geht es los, und bis Maria Schutz und Fürbitte ist alles vorbei«, sagte plötzlich Pjotr Stepanowitsch.
»Meinen aufrichtigsten Dank«, erwiderte darauf
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