Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Verstand machen?«
»Sehr viele. Wenn es das Vorurteil nicht gäbe, wären es noch mehr; sehr viele; alle.«
»Nun sind es schon alle?«
Er sagte nichts.
»Gibt es denn eine Möglichkeit, ohne Schmerz zu sterben?«
»Stellen Sie sich vor«, er blieb mir gegenüber stehen, »stellen Sie sich einen Felsbrocken vor, so groß wie ein großes Haus; der Brocken hängt, und Sie sind drunter; wenn er fällt, auf Ihren Kopf – wird Ihnen das weh tun?«
»Ein hausgroßer Felsbrocken? Natürlich, ich hätte Angst.«
»Ich meine nicht Angst; wird das weh tun?«
»Ein Brocken wie ein Berg, eine Million Pud? Selbstverständlich wird es nicht weh tun.«
»Aber wenn Sie wirklich drunterstehen, werden Sie Angst haben, solange er über Ihnen hängt, daß es weh tut. Der größte Gelehrte, der größte Arzt, alle, alle werden Angst haben. Jeder wird wissen, daß es nicht weh tut, aber jeder wird Angst haben, daß es weh tut.«
»Gut, und das zweite Vorurteil? Das große?«
»Das Jenseits.«
»Das heißt die Strafe?«
»Das ist egal. Das Jenseits; nur das Jenseits.«
»Gibt es denn keine Atheisten, die an das Jenseits überhaupt nicht glauben?«
Wieder sagte er nichts.
»Vielleicht schließen Sie von sich auf andere?«
»Jeder kann nur von sich aus schließen«, sagte er errötend.
»Volle Freiheit wird dann sein, wenn es egal ist, leben oder nicht leben. Das ist das Ziel von allem.«
»Das Ziel? Aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?«
»Niemand«, sagte er entschieden.
»Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben liebt, so verstehe ich das«, bemerkte ich, »und so will es die Natur.«
»Das ist gemein und ein Schwindel!« Seine Augen funkelten. »Leben ist Schmerz, Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Angst. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er den Schmerz und die Angst liebt. So wurde es eingerichtet. Das Leben wird mit Schmerz und Angst erkauft, und das ist der ganze Schwindel. Jetzt ist der Mensch noch nicht der richtige Mensch. Es wird ein neuer Mensch sein, glücklich und stolz. Wem es ganz egal sein wird, leben oder nicht leben, der ist der neue Mensch. Wer Schmerz und Angst überwindet, der wird selbst Gott sein. Und der andere Gott wird nicht sein.«
»Also gibt es den anderen Gott doch, Ihrer Meinung nach?«
»Er ist nicht, aber er ist. Im Felsbrocken ist kein Schmerz, aber in der Angst vor dem Felsbrocken ist Schmerz. Gott ist der Schmerz der Todesangst. Wer Schmerz und Angst überwindet, der wird selbst Gott sein. Dann ist ein neues Leben, dann ist ein neuer Mensch, dann ist alles neu … Dann teilt man die Geschichte in zwei Teile: vom Gorilla bis zur Abschaffung Gottes und von der Abschaffung Gottes bis …«
»Bis zum Gorilla?«
»… bis zur physischen Veränderung der Erde und des Menschen. Der Mensch wird Gott sein und sich physisch verändern. Und die Welt wird sich verändern, und die Dinge werden sich verändern und die Gedanken und alle Gefühle. Glauben Sie, daß der Mensch sich dann auch physisch verändern wird?«
»Wenn es allen egal sein wird, ob sie leben oder nicht leben, dann werden alle sich töten, und darin wird möglicherweise die Veränderung bestehen.«
»Das ist egal. Sie werden den Schwindel töten. Jeder, der die Hauptfreiheit will, muß den Mut haben, sich zu töten. Wer den Mut hat, sich zu töten, der ist hinter den Schwindel gekommen. Weiter gibt es keine Freiheit; hier ist alles, und weiter gibt es nichts. Wer den Mut hat, sich zu töten, der ist Gott. Jetzt kann jeder machen, daß Gott nicht ist und überhaupt nichts ist. Aber noch hat niemand es je gemacht.«
»Es gab Millionen von Selbstmördern.«
»Aber immer nicht darum, immer nur aus Angst und nicht darum. Nicht darum, um die Angst zu töten. Wer sich nur darum tötet, um die Angst zu töten, der wird sogleich Gott sein.«
»Vielleicht hat er dann keine Zeit mehr dazu«, bemerkte ich.
»Das ist egal«, antwortete er leise mit ruhigem Stolz, beinahe herablassend. »Ich bedaure, daß Sie, wie es scheint, sich lustig machen«, fügte er nach einer halben Minute hinzu.
»Und ich wundere mich, daß Sie am Vormittag so gereizt waren und jetzt so gelassen sind, obwohl Sie mit solchem Feuer sprechen.«
»Am Vormittag? Am Vormittag war es lustig«, sagte er lächelnd. »Ich zanke nicht gern und bin niemals lustig«, fügte er traurig hinzu.
»Ja, Sie verbringen Ihre Nächte beim Tee nicht gerade heiter.« Ich stand auf und nahm meine
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