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Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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trat ebenso gemessen auf wie damals, er war sogar beinahe ebenso jung. Sein leichtes Lächeln war ebenso konventionell freundlich und ebenso selbstzufrieden; sein Blick ebenso streng, nachdenklich und gleichsam irgendwie zerstreut. Kurz, es war, als hätten wir uns erst gestern getrennt. Und dennoch, etwas verblüffte mich: Früher hatte man ihn zwar für ein Bild von einem Mann gehalten, aber sein Gesicht hatte tatsächlich »einer Maske geähnelt«, wie einige böse Zungen unter den Damen unserer Gesellschaft sich auszudrücken pflegten. Jetzt aber, ich weiß nicht, warum, jetzt aber glaubte ich, einen entschieden, unbestreitbar schönen Mann vor mir zu sehen, so daß man nun unmöglich sagen könne, sein Gesicht ähnele einer Maske. Lag es daran, daß er eine Spur blasser war als früher und vielleicht etwas schlanker? Leuchtete vielleicht ein neuer Gedanke in seinem Blick?
    »Nikolaj Wsewolodowitsch!« rief Warwara Petrowna, die sich, ohne aufzustehen, in ihrem Sessel kerzengerade aufrichtete und ihn mit einer gebieterischen Geste aufforderte stehenzubleiben: »Halt, einen Augenblick!«
    Um aber jene furchtbare Frage zu erklären, die plötzlich auf diese Geste und diesen Ausruf folgte – eine Frage, deren bloße Möglichkeit ich sogar einer Warwara Petrowna nicht zugetraut hätte –, muß ich den Leser bitten, Warwara Petrownas Charakter während ihres ganzen Lebens und sein ganz besonderes Ungestüm in manchen außergewöhnlichen Minuten sich zu vergegenwärtigen. Ich bitte gleichfalls zu bedenken, daß in ihrem Leben, ungeachtet ihrer außergewöhnlichen Seelenstärke, der beträchtlichen Portion Verstand und des praktischen, sozusagen ökonomischen Taktes, die ihr zu Gebote standen, Augenblicke nicht ausblieben, denen sie sich plötzlich ganz ungeteilt, ja, wenn der Ausdruck erlaubt ist, völlig rückhaltlos hingab. Schließlich bitte ich zu berücksichtigen, daß der gegenwärtige Augenblick für sie tatsächlich einer von jenen sein mochte, in denen sich plötzlich, wie in einem Brennpunkt, das Wesentliche ihres Lebens konzentrierte – alles durchlebten, alles gegenwärtigen und vielleicht auch zukünftigen. Ich erinnere noch en passant an den anonymen Brief, den sie erhalten und den sie kurz vorher in ihrer Gereiztheit gegenüber Praskowja Iwanowna erwähnt hatte, ohne sich, wie es schien, weiter über den Inhalt des Briefes auszulassen; dabei lag vielleicht gerade darin der Hinweis auf die Möglichkeit jener furchtbaren Frage, mit der sie sich plötzlich an ihren Sohn wandte.
    »Nikolaj Wsewolodowitsch«, wiederholte sie, Wort für Wort besonders deutlich betonend, mit fester Stimme, in der eine drohende Herausforderung mitschwang, »ich bitte Sie, sagen Sie sofort, ohne sich von der Stelle zu rühren: Ist es wahr, daß diese unglückliche, hinkende Frau – hier ist sie, da, sehen Sie sie an! –, ist es wahr, daß sie Ihre … legitime Ehefrau ist?«
    Ich erinnere mich sehr genau an diesen Augenblick; er zuckte mit keiner Wimper und sah seine Mutter aufmerksam an; nichts, gar nichts änderte sich in seinem Gesicht. Endlich, langsam, lächelte er ein irgendwie herablassendes Lächeln, trat, ohne ein Wort zu sprechen, ruhig vor seine Mutter, ergriff ihre Hand, führte sie ehrfürchtig an seine Lippen und küßte sie. Und so stark war sein immerwährender, unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter, daß sie ihm auch jetzt ihre Hand nicht zu entziehen wagte. Sie sah ihn nur an, sie war nur diese Frage, und ihr ganzes Aussehen besagte: noch einen Augenblick, und sie würde die Unwissenheit nicht länger ertragen.
    Aber er schwieg immer noch. Nachdem er ihr die Hand geküßt hatte, sah er sich noch einmal im ganzen Zimmer um und ging dann, immer noch ohne jede Eile, geradewegs auf Marja Timofejewna zu. Es ist sehr schwer, das Gesicht eines Menschen in bestimmten Augenblicken zu beschreiben. Ich habe, zum Beispiel, behalten, wie Marja Timofejewna, halb tot vor Schrecken, sich ihm entgegen erhob und vor ihm gleichsam flehend die Hände faltete; ich erinnere mich an die Verzückung in ihrem Blick, eine geradezu närrische Verzückung, die ihre Gesichtszüge fast entstellte, eine Verzückung, die der Mensch kaum erträgt. Vielleicht war es beides, sowohl Schrecken als auch Verzückung; aber ich erinnere mich, daß ich mich ihr rasch zuwandte (ich stand in ihrer unmittelbaren Nähe), im Glauben, sie würde im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen.
    »Sie dürfen nicht hier bleiben«, sprach Nikolaj

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