Böse Liebe - Ein Alex-Delaware-Roman 8
einem großen Paket verschnürt, und das muss er jetzt mit sich herumtragen.«
Sandra wandte sich ab.
»All seine Sünden?«, fragte ich.
»Ja, der liebe Gott zählt alle guten Taten und alle bösen Taten und packt sie zusammen. Wenn du stirbst, dann kann er gleich sehen, ob du in den Himmel oder in die Hölle gehörst. Er kommt in die Hölle; dort schauen die Engel sich sein Paket an und sehen alles, was er getan hat, und dann wird er verbrannt. Das ist die Wahrheit.«
Sandras Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie versuchte Stefanies Arm abzuschütteln, doch die ließ nicht locker.
»Ist schon gut«, wiederholte sie. »Es ist die Wahrheit, und die muss man aussprechen.«
»War er jemals böse zu euch?«
Sandra schüttelte den Kopf. Stefanie sagte: »Er hat uns geschlagen.«
»Oft?«
»Manchmal, wenn wir ungezogen waren.«
»Ungezogen?«
»Wenn wir an seine Sachen gingen, an sein Motorrad - Mama hat er öfter geschlagen, nicht wahr?« Sie stubste Sandra an. »Das hat er doch.«
Sandra nickte schwach, griff nach dem Malstift und knibbelte wieder an dem Papier.
»Deshalb sind wir von ihm weggegangen«, sagte Stefanie. »Er hat sie die ganze Zeit geschlagen. Und dann verfolgte er sie mit Lust und Sünde im Herzen und brachte sie um.«
Sandra fing an zu weinen. Ich holte eine Packung Papiertaschentücher. Stefanie nahm sie mir ab und wischte ihrer Schwester die Tränen ab. Sandra beruhigte sich, und Stefanie nahm ihren Boxkampf wieder auf.
»Lasst uns mal durchgehen, was ich euch letzte Woche erzählt habe. Ihr seid hier, weil euer Vater will, dass ihr ihn im Gefängnis besucht. Ich will herausfinden, was ihr darüber denkt, damit ich es dem Richter erzählen kann.«
»Warum fragt der Richter uns nicht selbst?«
»Das wird er noch. Er wird mit euch reden, doch erst will er, dass ich -«
»Warum?«
»Weil das mein Beruf ist - mit Kindern zu reden und herauszufinden, was sie wirklich denken.«
»Wir wollen ihn nicht sehen«, sagte Stefanie.
Sandra schlug die Hände vors Gesicht, schluchzte auf und rannte davon. Sie riss die Tür so schwungvoll auf, dass es sie fast umwarf.
Stefanie schaute ihr nach; sie wirkte winzig und hilflos.
»Es sieht aus, als ob du immer auf sie aufpasst, obwohl sie die Ältere ist.«
Sie zuckte die Schultern.
»Manchmal ist es bestimmt nicht einfach.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und streckte das Kinn vor. Ich lächelte.
»Es geht schon«, sagte sie, »sie ist schließlich meine Schwester.«
Ich klopfte ihr auf die Schulter, und sie schniefte kurz.
»Die Wahrheit muss man aussprechen!«
»Ja, das muss man.«
Sie fing wieder an, in die Luft zu boxen. »Paff, pau... Ich will jetzt nach Hause.« Dann rannte auch sie nach draußen.
Sandra war schon zu Evelyn ins Auto gestiegen. Stefanie ging zur Beifahrerseite, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sie öffnete die Wagentür und kletterte auf den Rücksitz.
»Das ging ja schnell«, sagte Evelyn. »Müssen wir noch mal wiederkommen?«
»Wir wollen es morgen noch einmal versuchen. Um dieselbe Zeit. Geht das?«
»Eigentlich nicht. Ich habe was zu erledigen.«
»Was wäre denn eine gute Zeit für Sie?«
»Die gibt’s nicht. Die guten Zeiten sind schon lange vorbei.«
Sie ließ den Wagen an. Ihre Lippen zitterten. Die Stoßstange schrammte am Bordstein, als sie davonfuhr.
Ich blieb eine Weile stehen und atmete die Auspuffgase ein, bevor ich ins Haus zurückging. Es war erst zehn Uhr morgens, doch ich war schon wieder müde.
Ich ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und begann, die Post durchzugehen. Werbung wanderte in den Papierkorb, Schecks wurden unterschrieben und Briefe abgeheftet, bevor ich zu dem braunen Umschlag kam, von dem ich annahm, dass er ein Buch enthielt. Ich öffnete ihn und griff hinein: nichts. Doch als ich ihn schüttelte, purzelte eine Tonbandkassette auf den Tisch.
Schwarz, kein Etikett, keine Beschriftung.
Ich sah mir den Umschlag genauer an. Meine Adresse stand auf einem weißen, getippten Aufkleber. Keine Postleitzahl, kein Absender. Abgestempelt vor vier Tagen am Hauptpostamt.
Seltsam. Ich nahm die Kassette mit ins Wohnzimmer, schob sie ins Kassettendeck und ließ mich auf meine alte Ledercouch sinken.
Zuerst war nichts zu hören, nur ein Klick und Knistern. Dann eine Stimme - Schreie, eine heisere Männerstimme, feuchtes Gurgeln voller Schmerz, unerträglicher Schmerz. Ohne Unterbrechung, zusammenhanglose, grauenhafte Laute. Ich saß auf meiner Couch, steif vor
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