Böse Schafe: Roman (German Edition)
U-Bahn, während der Fahrt, auf dem Weg in unsere Straße und noch hinter meiner Wohnungstür warst du grabesstill. Auch ich sagte kein Sterbenswort. Selbst das Küchenradio, an dem du sonst immer gleich herumdrehtest, bis du eine dir genehme Musik gefundenhattest, blieb stumm. Ich entkorkte eine Flasche Rotwein und setzte mich, du dich auf den Stuhl mir gegenüber. Nach dem dritten schweigend geleerten Glas begann ich zu weinen. Die Tränen liefen wie Wasser aus mir heraus; ich schluchzte, schniefte, stöhnte – und konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder damit aufzuhören. Du gingst nicht weg, kamst mir aber auch nicht näher.
Es ist deshalb, sagte ich, als ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen war, deshalb holst du mich jedesmal von der Palme. Deshalb durfte ich dir keinen … Ich brachte das Wort »blasen« nicht über die Lippen, fand es aber plötzlich so komisch, daß ich anfing zu lachen und dabei munter weiterweinte. Wenn das nicht hysterisch war, Harry, was war es dann?!
Du erhobst dich, holtest Butter, Wurst, Tomaten aus dem Kühlschrank, schmiertest mir Stullen, entkorktest für mich die nächste Flasche Rotwein und machtest dabei Geräusche, die womöglich besänftigend sein sollten. »Pst, pst«, zischtest du, als hättest du es mit einem greinenden Säugling zu tun und nicht mit deiner verzweifelten Freundin, die umzukommen glaubte, wenn auch erst einmal nur vor Angst.
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XI
Am nächsten Tag erwachte ich davon, daß mir die Sonne das Gesicht wärmte; sie stand im rechten oberen Winkel des Fensters, und ich vermutete, es sei mindestens zwölf Uhr. Ich war bis zum Hals zugedeckt und hatte – wieder mal – mein Kleid noch an. Als ich zur Seite und hochblickte, sah ich dich krumm wie eine Trauerweide im Bademantel über mich gebeugt; du hieltest den Kopf gesenkt, deine Arme hingen schlaff und affenlang herab, so, daß sie mich fast berührten. Neben deinen nackten Füßen stand ein Tablett mit frischen Brötchen, Marmelade, Kaffee. Du hättest, sagtest du mir ins Gesicht, dem wohl anzusehen war, wie schnell mir das gestern Geschehene wieder einfiel, Joe schon angerufen, und der fände, wir sollten uns abregen, und irgendwie würde es weitergehen. Wir hätten genug Zeit bis zu unserem Abschiedstreffen. Das wirklich Schwere käme erst danach und nur für dich.
Klar, Harry, gab ich zur Antwort, dich interessiert wie immer erst mal deine Perspektive, obwohl du eigentlich gar keine mehr hast. Versteh ich auch, daß du deine letzten Monate in Freiheit bleiben willst. Aber was wird aus mir? Was ist mit den anderen? Sind wir dir scheißegal?
Du setztest dich neben mich; »gibt nichts zu fürchten«, meintest du, »kannst ja den Test machen lassen. Bloß, wozu? Ist doch alles okay.« Du hattest deine Sprache also wiedergefunden, warst für deine Verhältnisse fast geschwätzig. Es wäre nicht weiter schlimm, wenn ich dich nicht mehr anfassen wolle. Darauf könntest du verzichten, nur nicht auf meine »Solidarität«.
Du hattest tatsächlich die Stirn, an diesem Tag, in dieser Situation, dieses Wort zu gebrauchen, und das brachte mich auf die Palme, wenngleich nicht auf deine. Ich fuhr hoch, trat die Decke beiseite, dann gegen den Brötchenkorb und schoß ab in die Küche. Ich stand lange in der Duschtasse unter dem warmen Wasserstrahl, du davor, ein ausgebreitetes rotes Frotteetuch bereithaltend, und riefst lachend: »Friede!«
Dich und das rote Tuch keines Blickes würdigend, stampfte ich tropfend zurück ins Zimmer, um mich mit einem deiner dort herumliegenden Hemden abzutrocknen, ließ es dann aber bleiben, zog, weil ich nicht noch einmal in die Küche wollte, nicht meinen zerknautschten Hänger, sondern ein anderes Kleid über und entwich, ohne dich zu beachten, ohne an das Therapiegebot zu denken, demzufolge wir dich ja keine Minute aus den Augen verlieren durften. Ich hoffte, daß ich, wenn ich auf der Straße und mit mir allein wäre, Vernunft annehmen, einen Ausweg finden, eine Entscheidung treffen würde.
Ach, Harry; an dieser Stelle, da vor mir liegt, was nun kommen müßte, verläßt mich der Mut, zweifle ich sehr daran, daß ich schaffe, was ich doch will: dir alles erzählen, frage ich mich, ob ich aufhören sollte, nach Worten zu suchen. Die ganze Zeit erzähle ich, so gut ich es vermag. Aber für das Grauen, das mich damals gepackt hat und mir treu ist bis heute, das mich anspringt wie ein Hund, sobald ich an jenen Tag bei Joe denke, gibt es außer diesem einen, viel- und
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