Böse Schafe: Roman (German Edition)
die sich für mein Gefühl zur Ewigkeit dehnten, herrschte Schweigen. Alle außer mir lächelten matt und schauten irgendwohin, nur nicht zu Joe.
Schließlich räusperte sich Clara, an der Joes Blick klebengeblieben war. »Was soll’s«, sagte sie ein wenig schleppend und so, als seiest du nicht im Raum, »der Harry hatte die letzten Jahre halt kaum Kontakt zu gebildeten, politisch und künstlerisch engagierten Menschen, darum fehlt ihm oft die eigene Meinung. Immerhin weiß er, was ihn nicht interessiert, und kann einigermaßen zuhören. Gedichte verstehen lernen, das braucht seine Zeit und Harry eine wie mich, dann klappt das auch irgendwann, denn dumm ist er nicht. Mehr Austausch wäre schon schön, aber ich bringe ihm gerne was bei. Nur wollen muß er. Die zwei Monate, die uns noch bleiben, sind nicht viel, gerade genug für den Anfang, der ja Gott sei Dank bald hinter uns liegt …«
Wahrscheinlich hätte Clara weiter solches Stroh gedroschen und jeder von uns anderen weitergeschwiegen, wenn nicht ausgerechnet sie die erste gewesen wäre, die auf Joes Animation reagierte.
»Ach Quatsch mit Gedichten und Soße«, schnitt Frank ihr das Wort ab, »wir kommen klar. Bei mir hat Harry schon Bilderrahmen gebaut und so gut wie alleine ne ganze Ausstellung verpackt. Einziges Minus: Er fragt nicht, lieber macht er’s falsch.«
»Manches auch nicht«, mischte Hanna sich ein, »Stullen schmieren, Tütensuppe kochen, Wäsche zusammenlegen erledigt Harry alles prima, ohne Diskussion.«
»Wir hören viel Musik, das ist easy, so wunderbar entspannend. Zumal Harrys Leben gerade ziemlich stressig verläuft«, sagte nun Marlene, nach der ich sprechen wollte, um dich noch etwas mehr zu loben und so, wie ich es für therapeutisch clever hielt; etwa deine soziale Kompetenz, deine kleinen Geschenke, deine ruhige, besonnene Art …
Doch Joe kam mir zuvor: »Haltet ihr Harry für ehrlich? Spricht er gelegentlich über sich? Sagt er, wie es ihm geht, was mit ihm los ist? Und wer von euch hat sich dafür schon mal interessiert und das auch zum Ausdruck gebracht? Wißt ihr eigentlich, meine lieben Zwerginnen und Zwerge samt Ersatzzwerg, wer seit Wochen in euren Bettchen schläft, von euren Tellerchen ißt, aus euren Becherchen trinkt? Schneewittchen heißt er nicht, obwohl auch Gift im Spiel ist.«
Joe war vor deinem Stuhl zum Stehen gekommen, trat nah an dich heran, stieß dir mit dem Handballen nicht eben sanft vor die Brust. »Los, Harry«, fauchte er leise,aber scharf, »heb deinen Arsch hoch und sag’s ihnen. Da du offenbar noch immer nicht den Mut hattest, sag es ihnen jetzt, sofort.«
Doch du bliebst sitzen, senktest den Kopf und wurdest, was nur ich deutlich sehen konnte, weil dein Stuhl der letzte in der Reihe war – und meiner der rechte daneben – und ich mich so weit zu dir hinüberbeugte, daß mein Haar deinen Schoß berührte, feuerrot. Binnen Sekunden hattest du Schweißperlen auf der Stirn; und wenn es keine Sinnestäuschung gewesen war, tropfte mir, ehe ich es wegzog, mindestens eine davon ins Gesicht.
Du schwiegst. Wir hielten den Atem an. Joe tänzelte vor dir auf der Stelle wie ein Fußballer, der gleich den ersten Elfmeter schießen muß, oder wie ein Kommissar, der endlich das längst fällige Geständnis hören will, und bedrängte dich: »Nun red schon, wir haben nicht ewig Zeit.«
Du schwiegst eisern weiter, krümmtest dich nur noch mehr zusammen.
»Na gut«, sprach Joe, als du kleiner nicht mehr werden konntest, »du schaffst es also nicht, reinen Tisch zu machen. Du willst deine Freunde, ohne die du seit Wochen wieder auf Dope und im Knast wärst, nicht damit konfrontieren, daß du HIV-positiv bist?!«
Für das, Harry, was Joes Worte in mir auslösten, hatte ich keine, weder in jenen Tagen, die diesem einen folgten, noch später. Und selbst heute werde ich meine damaligen Empfindungen kaum in Sprache fassen können. Es war, als hätte man mir einen sofort und mächtig, aber nicht vollständig betäubend wirkenden Cocktail aus Angst,Enttäuschung, Wut und Selbstmitleid injiziert. Es war wie ein elektrischer Schicksalsschlag, eine Explosion im Schädel, die mein Bewußtsein zu zerstören drohte und gleichzeitig schärfte. In meinen Ohren brauste und dröhnte es, derart laut, daß ich den Kommentar, zu dem dich Joe nun doch provoziert hatte, vernahm wie hochtönendes, den Gewitterdonner eher skandierendes als durchdringendes, vielleicht nur vom Wind hervorgerufenes Jaulen; es war, als hörte ich
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