Böser Bruder, toter Bruder
und ich bin allein.
»Es ist noch nicht zu spät«, sage ich laut. »Ich kann immer noch gehen.«
Mühsam stehe ich auf und fühle mich dabei wie eine kraftlose alte Frau. Ich mache einen kleinen Schritt Richtung Tür und erstarre, als ich jemanden den Flur entlangrennen höre. Die Schritte hallen im leeren Gebäude wider.
Ein Lehrer, der nachsehen will, ob alle draußen sind?
Der Amokläufer?
Jamie?
Sind beide ein und dieselbe Person?
Was willst du jetzt machen?
Häng hier nicht einfach rum!
Entscheide dich!
Entscheidungen zu treffen, war noch nie meine Stärke.
Dennoch quetsche ich mich hinter ein Regal, in dem Arbeitstexte für Englische Literatur liegen. Mein Rücken drückt gegen die Wand und mein Gesicht gegen die staubigen Ausgaben von Wer die Nachtigall stört .
Dann geht die Tür zur Abstellkammer auf, und ich erschrecke derart, dass ich mir fast in die Hose mache.
Ich rege mich nicht und gebe keinen Laut von mir. Durch die Regale kann ich meine Klassenlehrerin M s Powell sehen, die in der Tür steht.
Ich kann immer noch gehen, sage ich mir. Ich muss nur hinter dem Regal hervorkommen. M s Powell wird mich nach draußen bringen, und dann bin ich in Sicherheit.
Tu es.
Tu’s jetzt!
Ich bewege mich nicht. Ich bin so reglos und still wie einer, der im Grab liegt.
M s Powell ist afroamerikanischer Herkunft und hat dunkle Haut, aber nun wirkt ihr Gesicht grau vor Angst. Sie blickt sich hastig in der Kammer um, dann wendet sie sich ab und läuft davon, ohne die Tür wieder zu schließen.
Meine Knie geben nach. Ich taumele aus meinem Versteck, und mir wird schlecht. Ich übergebe mich über einen Hamlet -Stapel. Macht nichts. Das Stück mochte ich ohnehin nie. Fast alle Figuren sind Irre oder Mörder.
Ich lehne mich gegen die Wand, wische mir den Mund ab und versuche nachzudenken. Ich habe mich entschieden hierzubleiben, aber keinen blassen Schimmer, was ich als Nächstes tun soll.
Konzentrier dich, Mia.
Es kostet mich enorme Willenskraft, mir einzugestehen, dass ich diese Entscheidung längst getroffen habe.
»Ich muss Jamie finden«, murmele ich. »Das ist es, was ich tun muss.«
Als ich mit wackeligen Knien auf die Tür zuwanke, kommt mir zum ersten Mal in den Sinn, dass ich mich in großer Gefahr befinde, wenn Jamie und der Amokläufer nicht identisch sind. Aber daran darf ich gar nicht erst zweifeln. Schließlich habe ich mich freiwillig in diese Lage gebracht. Doch was ist, wenn nich t …?
Ich schiebe den Gedanken an mögliche Gefahren beiseite. Ich bin mir fast sicher, dass es Jamie ist. Aber den Gedanken an Mum lasse ich zu und muss tief Luft holen.
Ich verlasse die Kammer und betrete den düsteren Flur, der wie ausgestorben daliegt. Auf der Seite des Gebäudes, die zum Schultor, zum Hof und zum Parkplatz geht, sind alle Rollos herabgezogen worden, um die niedrig stehende Wintersonne auszusperren. Im Stillen schicke ich dafür ein Dankesgebet zum Himmel. Niemand kann mich von draußen sehen.
Im Gebäude herrscht eine geisterhafte Stimmung. Alle Klassentüren stehen offen, und als ich mit zitternden Beinen an den Räumen vorbeigehe, sehe ich umgestürzte Stühle und aufgeschlagene Bücher auf dem Boden, unvollendete Sätze an den Tafeln und zahllose andere Hinweise darauf, dass die Schule überstürzt geräumt wurde. Ab und zu klingelt ein Handy in einem der Spinde, und ich fahre vor Schreck zusammen. Die ganze Zeit über lausche ich angestrengt auf Pistolenschüsse, aber ich höre nichts.
Wohin gehe ich eigentlich? Wie ferngesteuert stolpere ich die Treppe hinunter.
Ich weiß es nicht. Als ich Jamie das letzte Mal gesehen habe, lief er schnurstracks Richtung Nebengebäude. Das liegt genau auf der anderen Seite des Grundstücks. Als ich unten angelangt bin, befinde ich mich im Erdgeschoss des lang gestreckten Verbindungsbaus, der an den linken Flügel der Schule anschließt. Bis zum Nebengebäude auf der rechten Seite ist es noch ein langer Weg.
Aber vielleicht ist Jamie gar nicht im Nebengebäude. Vielleicht war er zuerst dort und ist dann woanders hingegangen. Er und Opas Pistol e – und die Geisel n – sind vielleicht längst in einem anderen Teil der Schule.
Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Soll ich systematisch die Schule durchsuchen oder sofort im Anbau nachsehen? Ich zermartere mir den Kopf, denn bei dieser Entscheidung geht es buchstäblich um Leben und Tod. Als ich an der Tür zur Bücherei vorbeigehe, vernehme ich Stimmen in der unheimlichen Stille. Sie
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