Böser Bruder, toter Bruder
Briefschlitz. Er war ein sehr großer Mann, der sich immer noch so aufrecht hielt wie zu seiner Zeit beim Militär, und unser Briefschlitz war recht niedrig angebracht, sodass er sich entweder stark bücken oder davor knien musste. »Wie geht’s euch?«
»Sehr gut, vielen Dank«, sagte ich artig. »Jamie hat sich gestern den Kopf an der Tür gestoßen, aber jetzt geht’s ihm wieder gut.«
»Da bin ich aber froh«, antwortete Opa und lächelte Jamie an, der zu mir gerannt war. »Hallo, Jamie. Sagt mal, wo ist denn eure Mama?«
»Im Bett«, sagten Jamie und ich wie aus einem Munde.
Durch den Briefschlitz konnte ich sehen, dass Opa die Stirn runzelte.
»Im Bett?«, wiederholte er. »Aber ich dachte, ihr hättet längst alles gepackt und wärt startklar.«
Jamie und ich waren zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Stumm sahen wir ihn an.
»Ihr zieht doch heute zu mir, wusstet ihr das denn nicht?«, fuhr Opa fort. »Hat eure Mama euch nichts gesagt?«
Wir waren noch nie bei Opa gewesen. Er hatte uns schon öfter eingeladen, aber Mum hatte sich bisher nicht dazu aufraffen können, mit uns hinzugehen. Ich nehme an, ich habe schon damals begriffen, dass Opas Haus nicht schlimmer sein konnte als unsere Wohnung. Und die Sache hatte einen gigantischen Vorteil: Opa würde bei uns sein.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie grau und trist es an diesem Tag sowohl draußen als auch bei uns in der Wohnung war, doch mit einem Mal war ich voller Freude und Hoffnung. Und Jamies Miene spiegelte meine Gefühle.
»Oh, danke, Opa!«, brachte er atemlos hervor. Er tanzte durch den Flur, ohne sich um die Krokodillöcher zu kümmern, und sang: » Wir ziehen zu unserm Opa. «
Ich weiß nicht, was Opa an diesem Tag zu Mum sagte. Aber er schaffte es, dass sie innerhalb kürzester Zeit wach und angezogen war. Vor dem Hochhaus warteten ein Lastwagen und zwei Möbelpacker, und eine Stunde später war alles verstaut und verladen.
Opa wohnte in einem ruhigen, grünen Vorort am Rande der Stadt. Für Jamie und mich war das riesige Haus einfach fantastisch, voller Geheimnisse und Wunder, ein Sesam-öffne-dich, eine Schatzkiste gefüllt mit schönen und scheußlichen, nützlichen und nutzlosen Dingen. Opa hatte einen großen Teil seines Lebens in der Armee verbracht und war mit Oma um die ganze Welt gereist. Als begeisterte Sammler hatten sie von allen Orten etwas mitgebracht. Jedes Zimmer, jedes Regal, jeder Schrank und jede Schublade war vollgestopft mit Souvenirs. Hier entdeckten wir einen großen, aus Holz geschnitzten Vogel, der auf einem dürren Beinchen stand, dort eine Kiste mit schillernden Porzellantassen und den passenden Untertellern, die auf blauem Samt gebettet waren. Staubige Bücher und Zeitschriften waren zu Türmen gestapelt, und aus den dunklen Ecken starrten uns ausgestopfte Tiere mit ihren reglosen Glasaugen an.
Ich bekam mein eigenes Zimmer. Es war riesengroß und proppenvoll mit Antiquitäten von allen Kontinenten dieser Erde. Selbst meine Tagesdecke war eine orientalische Kostbarkeit aus türkisfarbener Seide mit aufgestickten Kirschblüten und goldenen Schmetterlingen. Sie war so anders als meine alte karierte Tagesdecke, die ein bisschen nach Hund roch und die Mum auf dem Flohmarkt für zehn Pence erstanden hatte.
Jamie und ich konnten unser Glück kaum fassen. Jeden Tag durchstreiften wir das Haus und entdeckten immer wieder neue Schätze. Unsere Lieblingsstücke wechselten von Stunde zu Stunde, weil wir ständig etwas anderes fanden, was unsere Neugier fesselte.
Eines Tage s – ungefähr drei Wochen nach unserem Einzug bei Op a – spielten Jamie und ich auf dem Dachboden. Das durften wir eigentlich nicht, denn Opa und Mum hatten es uns beide verboten. Ich glaube, Opa hatte den Überblick längst verloren, was er dort oben alles aufbewahrte, und machte sich Sorgen, dass wir etwas finden könnten, was nicht in Kinderhände gehörte.
Und genau das machte natürlich den Reiz aus. Normalerweise hielten wir uns immer an Opas Verbote, aber er war ausgegangen, und Mum wusch sich gerade die Haare, und irgendwie stachelten wir uns so lange gegenseitig auf, bis wir die Leiter hinaufstiegen und uns in den großen, düsteren Raum unter dem Dach wagten.
Dort standen überall Kisten und Kästen und Koffer und Truhen, so verlockend wie vergrabene Schätze. Wie eine Elster wurde ich von einem offenen Schmuckkästchen angezogen, in dem funkelnde Strasssteine so dekorativ verstreut lagen, als habe jemand sie für ein Foto
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