Böser Bruder, toter Bruder
sagte sie.
Jamie und ich hüpften Hand in Hand davon.
Im Inneren des rot-gelben Häuschens beschäftigte sich Jamie mit der Bügelwäsche, während ich mich an den Plastikherd stellte und unser Essen zubereitete.
Plötzlich schoss eine Hand durch den Spalt zwischen den karierten Vorhängen. Jemand packte meinen Pferdeschwanz und zog so fest daran, dass ich laut aufschrie. Als ich durchs Fenster sah, erhaschte ich einen Blick auf das grinsende Gesicht von Michael Riley, der gerade davonrannte. Ich brach vor Schock und Schmerz in Tränen aus.
Jamie ließ das Bügeleisen fallen und kam sofort zu mir. »Nicht weinen, Mia«, tröstete er mich und nahm mich in den Arm.
»Ich hasse Michael«, schluchzte ich. »Und jetzt habe ich auch noch die Würstchen anbrennen lassen.«
»Macht nichts.« Jamie tätschelte meine Schulter. »Ich hol eine Pizza. Du kannst schon mal den Tisch decken.«
Allein im Spielhaus, wischte ich mir die Tränen am Tischtuch ab und deckte den Tisch mit Tellern, Tassen und Besteck aus Plastik. Das tat ich zu Hause immer gemeinsam mit Opa, und es war wie ein Ritual, das mich beruhigte. Ich begann, leise vor mich hin zu singen.
Mit einem Mal hörte ich einen entsetzlichen Schrei. Und dann sah ich Michael vor dem Spielhaus liegen. Völlig regungslos. Ein Arm lag in einem widernatürlichen Winkel unter seinem Körper.
Lisa und Beth, die zweite Erzieherin, waren gleich bei ihm. Die anderen Kinder umringten sie neugierig, nur ich blieb, wo ich war. Das geschieht ihm recht, wenn er so gemein zu mir ist, dachte ich damals. Mir fiel gar nicht auf, dass Jamie nirgends zu sehen war.
Michael Riley war bewusstlos, als der Notarztwagen kam und die Sanitäter ihn vorsichtig auf die Trage hoben. Später sagte man uns, dass sein Arm an zwei Stellen gebrochen wäre, es ihm aber sonst gut ginge. Offensichtlich hatte ihn jemand von hinten fest geschubst, deshalb hatte er seinen Angreifer auch nicht sehen können. Lisa, Beth und Mr s Ransome, die Leiterin des Kindergartens, fragten jeden Einzelnen von uns, ob wir etwas mitbekommen hätten. Wir antworteten alle mit Nein, und es kam mir nicht in den Sinn, dass Jamie womöglich nicht die Wahrheit sagte.
Mr s Riley war sehr wütend über den Vorfall. Sie versuchte, die Einrichtung zu verklagen, hatte aber keinen Erfolg. Jedenfalls kam Michael nicht wieder, und ich musste mich nie mehr von ihm ärgern lassen.
Ich habe Jamie nie gefragt, ob er es war, der Michael geschubst hat. Damals kam ich ja nicht einmal darauf, und als ich älter wurde und mir so meine Gedanken machte, wagte ich es nicht.
Es könnte ja auch viel harmloser gewesen sein. Vielleicht hatten Jamie und Michael miteinander gekämpft, und Michael war ausgerutscht. Vielleicht wollte Michael seiner Mutter nichts von dem Kampf sagen und tischte ihr deshalb die Sache mit dem Schubsen auf.
Es gab allerdings keinen Grund, warum Jamie es mir hätte verschweigen sollen.
Jamie erwähnte Michael nie wieder.
Es klingt vielleicht weit hergeholt, den damaligen Vorfall mit dem in Verbindung zu bringen, was gerade an dieser Schule passiert. Aber Michael Riley war ja nur der Anfang.
Sechs
Montag, 10. März, 9.15 Uhr
All die Energie, die Entschlossenheit und der Mut, die mich dazu gebracht haben, aus dem Lehrerzimmer zu stürmen, sind entwichen, als hätte man mich gepackt und wie einen Waschlappen ausgewrungen. Ich stehe wie angewurzelt da, kann mich nicht regen und starre M s Kennedy mit offenem Mund an, als hätte ich sie noch nie gesehen.
M s Kennedy wirkt genauso schockiert. Unwillkürlich legt sie die Hände ans Gesicht, ihre Kinnlade fällt herab und sie reißt die Augen auf. Sie erinnert mich an das Gemälde von Munch. Der Schrei .
Trotzdem fasst sie sich als Erste.
»Mia! Mia! Was in Gottes Namen machst du hier? Wieso bist du nicht draußen bei den anderen?«
M s Kennedy ist noch blonder und schöner als die Nachrichtensprecherin. Ich vergöttere sie, seit sie in der Siebten unsere Klassenlehrerin war. Jetzt unterrichtet sie uns nur noch in Englisch, und ich liebe ihre lustigen und interessanten Stunden. M s Kennedy ist nicht bloß umwerfend schön und immer toll angezogen, sie ist auch klug und witzig und schreibt Gedichte, die in Hochglanzmagazinen veröffentlicht werden. Ich beneide sie. Ich wäre so gerne wie sie.
»Weiß nicht«, antworte ich lahm, während ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen. Ich war mir so sicher gewesen, dass dieser Teil der Schule inzwischen leer sein würde. Doch
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