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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narinder Dhami
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aufzumachen und mich hinauszulehnen. Für mich als Sechsjährige klang das sehr beängstigend, daher hielt ich dagegen, dass er sich niemals trauen würde, sich auf den Fenstersims zu stellen. Schon im nächsten Moment hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen, denn Jamie rannte sofort zum Fenster und riss es auf.
    »Schau mal, Mia!«, rief er.
    Er kletterte auf den schmalen Sims und richtete sich auf. Seine Haare wehten im Wind, als er sich ein wenig vorbeugte und dann über die Schulter blickte, um mich anzugrinsen. Ich war außer mir!
    »Komm da runter, Jamie!«, schrie ich und schlug mir die Hände vor die Augen. »Komm sofort runter! Sonst ruf ich Opa!«
    Als ich meine Hände sinken ließ, war von Jamie nichts mehr zu sehen.
    Minutenlang stand ich wie gelähmt da. Ich wollte schreien, brachte aber nur ein geflüstertes »Jamie« hervor. Mit hämmerndem Herzen trat ich ans Fenster und erwartete, unten einen zerschmetterten Körper zu sehen, um den sich eine Menschenmenge sammelte.
    Aber unten lag niemand, und die Passanten gingen vorüber, als wäre nichts geschehen. Dann spürte ich plötzlich, dass jemand hinter mir stand, und diesmal schrie ich. Es war Jamie. Seine schwarzen Augen funkelten triumphierend. Er hatte sich auf dem schmalen Sims an der Mauer entlang bis zum nächsten Zimmer geschoben, war dort durch das offene Fenster wieder eingestiegen und zu mir zurückgerannt, um mich zu erschrecken.
    Es gab noch andere Vorfälle dieser Art, zu viele, um sie zu zählen. Als ich ihm Jahre später vorwarf, welche Angst ich damals gehabt hatte, lachte er nur.
    »Ich fühle mich einfach lebendig, wenn ich was Gefährliches mache«, sagte er mir. »Das gibt mir einen Kick, einen Adrenalinschub. Du solltest es auch mal probieren.«
    Aber Jamie ist nicht nur sich selbst gegenüber rücksichtslos. Ich glaube, dass er auch anderen Schaden zugefügt hat. Ich habe keine Beweise dafür und ihn nie darauf angesprochen. Es ist so viel einfacher, den Mund zu halten.
    Michael Riley war vermutlich der Erste. Ich sage vermutlich , weil ich mir nicht sicher sein kann.
    Ein paar Monate nachdem wir bei Opa eingezogen waren, kamen Jamie und ich in den Kindergarten. Das war Opas Idee gewesen, und es hatte eine Menge Überzeugungsarbeit gebraucht, bis Mum einverstanden war. Aber schließlich zogen wir an zwei Tagen in der Woche morgens los, um drei Stunden lang zu malen, Knete zu formen und mit Sand und Wasser herumzumatschen. Opa hoffte sicherlich, dass wir uns etwas voneinander lösen und selbstständiger würden, wenn wir mit anderen Kindern spielten.
    Aber es funktionierte nicht. Ich fand das Spielzeug und die Aktivitäten toll, aber ich misstraute den selbstbewussten, aufgeschlossenen Mädchen mit den Barbie-Rucksäcken und dem Haarschmuck, der farblich zur Kleidung passte, und ihren gut gelaunten Müttern, die sich unbekümmert miteinander unterhielten und ganz anders waren als unsere Mum. Ich blieb lieber für mich und spielte höchstens mit Jamie.
    Jamie dagegen ließ sich im Kindergarten durch nichts und niemanden einschüchtern, obwohl auch er nur mit mir spielen wollte.
    Die Jungs ignorierten mich, außer dem rothaarigen Michael Riley. Bis heute habe ich keinen Schimmer, wieso er mich nicht leiden konnte, und das gleich von Anfang an. Es begann damit, dass er eine Tasse Wasser über meine Schuhe kippte. Er schüttete Sand in meinen Orangensaft und steckte mir eine Schnecke in die Jackentasche. Aus einem unerfindlichen Grund schien er es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mich auf jede erdenkliche Weise zu ärgern und zu quälen. Ich hasste ihn, und Jamie hasste ihn um meinetwillen sogar noch mehr.
    »Na? Was willst du denn heute machen?«, fragte Lisa mich, als wir das vierte Mal da waren. Lisa war eine der Erzieherinnen, blond, angenehm rundlich, eine ruhige Frau, die eine sanfte, freundliche Stimme hatte. »Ein paar Kinder möchten Papierblumen basteln. Hast du auch Lust?«
    Ich blickte zu dem Tisch mit dem bunten Krepppapier und den Leimtöpfen. Michael Riley stand in der Nähe und fuchtelte mit einem Pinsel in der Luft herum, als sei er ein Schwert. Als er mich sah, streckte er die Zunge heraus und schielte.
    »Nein, lieber nicht«, sagte ich. »Jamie und ich möchten ins Spielhaus. Stimmt’s, Jamie?«
    »Ja, bitte, Lisa!« Jamie lächelte sie breit an, während er meine Hand nahm und sie drückte.
    Lisa seufzte leise, aber sie war zu lieb, um darauf zu bestehen, dass wir mitmachten. »Okay, dann ab mit euch«,

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