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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Narinder Dhami
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dringen aus dem Flur vor mir.
    »Oh Gott!«, hauche ich, als meine Knie erneut nachzugeben drohen.
    Einerseits bin ich froh, dass vielleicht ein Lehre r – M s Powell oder jemand ander s – nach mir sucht. Andererseits fürchte ich mich, dass es Jamie mit der Pistole sein könnte.
    Jamie würde mir nichts antun, dessen bin ich mir sicher.
    Aber würde er anderen etwas antun?
    Wenn ich wirklich annehme, dass er an den Vorfällen von damals beteiligt war, kann es auf diese Frage bloß eine Antwort geben.
    Ich höre keine Schritte, nur Stimmen, und ich strenge mich an, um etwas zu verstehen. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass sie irgendwie komisch klingen.
    Lautlos, denn ich könnte mich irren, bewege ich mich über den Flur in Richtung Lehrerzimmer, das nur ein paar Türen weiter liegt.
    Ich trete ganz vorsichtig ein; vielleicht ist ja doch jemand da. Aber wie ich vermutet habe, läuft bloß der Fernseher, der in der allgemeinen Panik nicht ausgeschaltet wurde. Zwei Frauen diskutieren wie wild über die neusten Ereignisse in der EastEnders -Soap .
    Ich bin enttäuscht.
    Ich bin erleichtert.
    Ich weiß nicht, was ich empfinde.
    Ich drehe mich um, weil ich mich in diesem Raum plötzlich unwohl fühle. Schließlich haben Schüler hier nichts zu suchen. Idiotisch! Als würde sich ausgerechnet heute ein Lehrer darüber aufregen. Das ist eben typisch Mia. Mein Zwillingsbruder läuft vielleicht mit einer Pistole durch die Schule, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich gegen eine Regel verstoß e …
    »Wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Mitteilung. Wie wir aus noch unbestätigten Quellen erfahren haben, ist ein Amokläufer in eine Schule in Birmingham eingedrungen. Die Gebäude wurden evakuiert und die Polizei ist bereits am Tatort.«
    Wieder verspüre ich einen Brechreiz. Als ich mich dem Bildschirm zuwende, begegnet mein Blick dem der Nachrichtensprecherin, die blond und schön genug ist, um als Hollywoodschauspielerin durchzugehen.
    »Unseren Informationen zufolge wird seit der Noträumung eine neunte Klasse vermisst. Es besteht die Vermutung, dass die Schüler im Nebengebäude eingeschlossen sind und vom Amokläufer als Geiseln gehalten werden.
    Ein bewaffnetes Sondereinsatzkommando und speziell für diesen Notfall ausgebildete Psychologen sind auf dem Weg zur Schule. Wir melden uns, sobald wir Neues erfahren.«
    Meine Gedanken überschlagen sich, als das Bild wechselt und wieder die wild diskutierenden Frauen zu sehen sind. Doch dann schiebt sich ein Gedanke vor alle anderen: Ich muss zum Nebengebäude!
    Reines Adrenalin schießt mir durch die Adern. Irgendwie muss ich zum Anbau gelangen, zu Jamie. Ich kann es schaffen. Ich muss es schaffen. Auch wenn wir in den letzten Jahren Schwierigkeiten miteinander hatten, ist Jamie immer noch mein Bruder, den ich über alles liebe. Ich kann nicht zulassen, dass er für mich so etwas Schreckliches macht. Ich will nicht, dass jemand in meinem Namen verletzt wir d – oder noch Schlimmeres.
    Ich ziehe meinen Pullover aus und knote ihn mir um die Taille. Dann zerre ich die Krawatte herunter. Ich will sie gerade fallen lassen, als mir der Gedanke kommt, dass sie mir noch nützen könnte. Also lege ich sie mir wie einen Gürtel um. Dann krempele ich die Ärmel hoch, fische ein Haargummi aus meiner Tasche und binde mir die Haare zurück.
    Ich bin bereit.
    Seit Monaten habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt. Vielleicht seit Jahren.
    Ich rase durch die Tür, den Gang hinunter und um die Ecke.
    Wo ich mit voller Wucht gegen M s Kennedy stoße.

Fünf
    Ich habe keine Ahnung, wann mir bewusst wurde, dass Jamie anders ist. Ich weiß, dass ich lange brauchte, bis ich es bemerkte, denn wir waren uns ja in vielem so ähnlich. Als Babys lagen wir zusammen im Kinderwagen und teilten uns eine Decke. Wir lernten gleichzeitig laufen und sprechen. Wir wussten meist schon vorher, was der andere sagen wollte, und konnten oft die Gedanken des anderen lesen.
    Im Laufe der Jahre begriff ich allmählich, dass Jamie doch nicht so war wie ich, und diese Erkenntnis machte mir Angst. In ihm steckte etwas Wildes, was mir vollkommen fehlte.
    Jamies Lieblingssatz war: »Das traust du dich nie!«, und wenn ich ihm dann eine noch schwierigere Aufgabe stellte, ging er stets weiter, als ich es gewollt hatte, und brachte sich in extreme, gefährliche Situationen.
    Einmal wettete Jamie, dass ich mich nicht trauen würde, das Fenster meines Zimmers im zweiten Stock

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