Böser Bruder, toter Bruder
dann wird mir mit Schrecken klar, dass höchstens zehn Minuten vergangen sind, seit M s Powell in der Abstellkammer nachgesehen hat, in der ich mich versteckt hielt. Bei dieser Achterbahnfahrt der Gefühle kam mir jeder einzelne Moment wie eine Ewigkeit vor.
M s Kennedy fragt nicht weiter nach. »Du kommst jetzt mit mir, Mia.« Sie packt meinen Arm und zieht mich in Richtung Ausgang. »Wir müssen sofort hier raus. Ich war selbst gerade auf dem Weg nach draußen, aber dann mussten wir noch ein paar idiotische Zehntklässler einsammeln, die sich wieder ins Gebäude geschlichen hatten, um ihre Handys aus den Spinden zu holen!« M s Kennedy schüttelt verständnislos den Kopf. »Jetzt müssten eigentlich alle in Sicherheit sein.«
Brav wie ein Lamm lasse ich mich von ihr zurück durch den Flur scheuchen, vorbei am Lehrerzimmer und an der Bücherei, und entferne mich dabei immer weiter vom Nebengebäude. Ich bin so daran gewöhnt zu tun, was die Lehrer wollen, dass ich automatisch gehorche.
Vielleicht hat das ja auch sein Gutes, denke ich. Vielleicht kann ich Jamie von draußen besser helfen.
»Ist das wahr?«, frage ich in der Hoffnung, endlich die ersehnten Antworten zu bekommen. »Ist wirklich ein Amokläufer im Anbau? Wer ist es?«
»Das weiß ich nicht, Mia.« M s Kennedy beschleunigt ihre Schritte, sodass wir jetzt zusammen den Gang entlangrennen, atemlos um die nächste Ecke biegen. »Keiner weiß es. Lass uns von hier verschwinden, okay? Dann können wir herausfinden, was hier vor sich geht.«
»Aber wieso weiß niemand etwas?«, frage ich aufgebracht.
Fast platze ich damit heraus, was ich über den Amokläufer und Jamie denke, doch ich kann mich gerade noch zusammenreißen. M s Kennedy scheint wirklich nichts zu wissen, und ich will die Leute nicht auf falsche Ideen bringen, falls der mysteriöse Attentäter doch nicht mein Bruder ist. Das ist immer noch möglich.
Und wer weiß, was alles passieren könnte, wenn ich Jamie wild beschuldige und sich später herausstellt, dass ich mich geirrt habe? Dann würden die Dinge sehr kompliziert und unangenehm werden.
Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand unsere kleine Familie auseinanderreißt, so traurig und gestört sie auch sein mag. Und ich werde auch nicht zulassen, dass Jamie unser Leben zerstört.
M s Kennedy antwortet nicht. Sie ist genauso fixiert auf den Notausgang vor uns, wie Bree es vorhin war.
»Woher kommt das Gerücht, wenn niemand den Amokläufer gesehen hat?«, fahre ich fort, während wir durch den endlos langen Flur rennen und auf die Doppeltür zustreben. »Wer hat den Alarm ausgelöst? Und wieso?«
M s Kennedy gibt einen Laut von sich, der halb wie ein Stöhnen und halb wie ein Schrei klingt. »Herrgott noch mal, Mia, halt den Mund!«
Das schockt mich. Ich bleibe abrupt stehen und entwinde mich ihrem Griff. Ich habe M s Kennedy noch nie brüllen gehört, nicht einmal vor der Klasse.
Meine Lehrerin wirbelt herum. Sie ist weiß wie ein Gespenst und ringt nach Luft. Da wird mir klar, dass sie in Panik ist. Und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Oberhand, weil ich es nicht bin.
»Mia, was soll das? Komm schon, du dummes Mädchen!« Sie stürzt sich auf mich, um mich wieder am Arm zu packen.
Aber ich mache einen Satz nach hinten, weiche vor ihr zurück.
Mit einem Mal wird mir bewusst, welche Rolle M s Kennedy bei allem spielt. Sie trägt definitiv einen Teil der Schuld. Schließlich hat sie mich überredet, bei dem Schreibwettbewerb mitzumachen. Okay, das war nicht allzu schwer, schließlich bin ich sofort darauf angesprungen. Es war ein landesweiter Wettbewerb, und ich habe ihn gewonnen.
Den ersten Preis. Büchergutscheine im Wert von zweihundertfünfzig Pfund für die Schule und hundert Pfund für mich selbst.
Vergangene Woche hat unser Direktor, M r Whitman, den Siegeraufsatz vor der versammelten Schule vorgelesen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Es sollte eine Überraschung sein und das wurde es auch, aber keine schöne, denn mein Aufsatz enthielt sehr viel Privates und Persönliches. Ich wäre vor Scham fast gestorben. Das wäre sogar eine Erleichterung gewesen.
M s Kennedy hat behauptet, sie habe selbst nichts von M r Whitmans Plan gewusst, aber ich frage mich, ob das wahr ist. Schließlich hat sie jede Menge Lob dafür bekommen, dass sie mich zur Teilnahme an dem Wettbewerb überredet hat. Ich kann mir gut vorstellen, was die anderen Lehrer gesagt haben.
Ist Natasha Kennedy nicht großartig? Seht nur, sie hat die
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