Böser Bruder, toter Bruder
erst mal einen Termin bei Dr . Fields, und dann sehen wir weiter.«
Ich nickte. Ich war zu erschöpft und niedergeschlagen, um mich mit ihm zu streiten.
»Mach den Termin aus, aber sag Mum auf keinen Fall Bescheid«, fügte Jamie hinzu. »Dann haben wir wenigstens die Überraschung auf unserer Seite.«
Wir mussten allerdings noch ein paar Wochen warten, da es schwierig war, einen Termin zu bekommen, der sich nicht mit dem Unterricht überschnitt. Schließlich vereinbarten wir einen für den ersten Tag in den Herbstferien, ein Montag, um halb zehn Uhr morgens. Um Viertel vor neun gingen Jamie und ich in Mums Schlafzimmer. Sie lag auf dem Rücken und schlief.
»Mum.« Ich trat ans Bett und schüttelte sie leicht an der Schulter. »Wach auf.«
Ihre Augen blieben geschlossen und sie regte sich nicht.
»Mum!« Ich schüttelte sie noch einmal und wieder geschah nichts. Mich packte die Angst, als ich zu Jamie aufblickte. »Jamie! Du glaubst doch nich t …?«
Er schob mich zur Seite. Behutsam strich er Mum die Haare aus dem Gesicht und musterte sie.
»Nein, Mia, alles in Ordnung«, sagte er schließlich. »Schau, sie atmet.« Dann nahm er eine fast volle Flasche Tabletten in die Hand, die auf dem Nachttisch stand. »Was sind das für welche?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Die habe ich noch nie gesehen.«
Jamie las das Etikett auf der Rückseite der Flasche, und sein Gesicht wurde rot vor Zorn.
»Schlaftabletten!« Frustriert schlug er aufs Bett. Mum regte sich nicht, schnarchte nur leise, als wollte sie Jamies Worte unterstreichen. »Vergiss es, Mia. Die kriegen wir im Leben nicht wach.«
»Aber wo hat sie die Tabletten her?«, fragte ich verzweifelt.
»Heute kannst du jeden Schrott übers Internet bestellen.« Jamie steckte die Flasche ein. »Für so was braucht man nicht mal ein Rezept.«
»Wir haben doch gar kein Interne t …«
Jamie schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Sag mal, Mia, kriegst du eigentlich gar nichts mit? Mum geht in die Bücherei und nutzt die Computer dort. Was denkst du denn, wie sie diese ganzen Typen kennenlernt? Auf Dating-Seiten!«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich ihr nachgegangen bin, ist doch klar«, erwiderte Jamie mit finsterer Miene. »Ich spioniere ihr seit Monaten nach.«
Ich war einen Moment lang sprachlos. Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen. Aber Jamie war schon immer zielstrebiger und rücksichtsloser als ic h – und mir in jeder Hinsicht einen Schritt voraus.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich schließlich. Insgeheim war ich erleichtert, dass wir Mum nicht mehr zwingen mussten, etwas zu tun, was sie hasste. Ich gebe alles für ein ruhiges Leben, so bin ich eben. Selbst wenn dieses Leben fast unerträglich ist.
Jamie antwortete nicht, aber bei seinem anklagenden Blick packte mich die Furcht.
»Hast du es ihr gesagt, Mia?«
»Was denn?«, stammelte ich.
»Dass wir heute einen Arzttermin haben.« Jamies Augen waren kalt wie schwarze Murmeln. »Hast du es ihr gesagt? Hat sie deshalb die Schlaftabletten genommen?«
»Ich habe ihr nichts gesagt!«, entgegnete ich wahrheitsgemäß.
Aber Jamie kannte mich viel zu gut.
»Hast du es irgendwo aufgeschrieben?«, fragte er.
»Ic h …« Ich war aufgeflogen und kam mir schäbig vor. »Ja, in meinem Kalender.«
Jamie sah mich böse an. »Hol deine Jacke.« Er wandte sich um und ging hinaus.
»Warum?« Ich rannte ihm hinterher. »Wohin gehen wir?«
»Zum Arzt.«
»Das macht doch keinen Sinn, Jamie«, sagte ich und wiederholte meine Worte unermüdlich, bis wir den Parkplatz der Praxis erreichten. Dabei war ich eigentlich heilfroh, dass er in dieser Situation das Kommando übernommen hatte. »Der Arzt verrät uns sowieso nichts über Mum. Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht, schon vergessen?«
»Ich will nichts über Mum wissen.« Jamie marschierte entschlossen über den Parkplatz. »Ich lebe seit dreizehn Jahren mit ihrer Krankheit. Ich will nur, dass sie uns verdammt noch mal helfen!«
Als ich den Termin telefonisch ausgemacht hatte, hatte mir die Sprechstundenhilfe gesagt, dass sich der fröhliche, charmante, grauhaarige Dr . Fields aus gesundheitlichen Gründen überraschend zur Ruhe gesetzt hatte. Seine Vertretun g – eine gewisse Dr . Caroline Zeelande r – würde Mum untersuchen.
Dr . Zeelander wirkte auf mich nicht gerade vertrauenerweckend. Sie war groß und extrem dünn. Ich musste unweigerlich an die entsetzlichen Fotos von Magersüchtigen in Zeitschriften denken, bei denen die
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