Böser Bruder, toter Bruder
während ich mich weiter gegen den Beitel stemme, immer noch ohne nennenswerten Erfolg.
Was ist, wenn die Polizei das Haus umstellt und mich abfängt?
Doch es gibt ja noch eine zweite Möglichkeit. Ich bin zwar überhaupt nicht sportlich, aber das könnte selbst ich schaffen.
Hastig stecke ich das Werkzeug zurück in die Tüte und wende mich nach links zu der großen Glasfront, die der Seite mit den Rollos gegenüberliegt. Die weiß lackierten Fensterbänke sind breit und niedrig, fast wie eine Sitzbank, und ich steige auf die nächstgelegene.
Dann strecke ich die Hand zum langen, rechteckigen Fenster über der großen Glasscheibe, die sich nicht öffnen lässt, und entriegele es.
Das Fenster schwingt auf. Frische, frostige Luft schlägt mir ins Gesicht und erfüllt mich mit neuer Energie. Ich packe den unteren Fensterrahmen und ziehe mich hoch, während meine Sneakers an der glatten Glasscheibe nach Halt suchen.
Ich lege eine kleine Verschnaufpause ein, dann schaffe ich es, ein Bein über den Rahmen zu schwingen. Für ein, zwei Sekunden verharre ich in dieser unangenehmen Position, rittlings auf dem Rahmen sitzend, dann ziehe ich das andere Bein nach. Langsam lasse ich mich an der Außenseite des Fensters herab. Hier gibt es keine breite Fensterbank, sondern nur einen schmalen Sims, und so muss ich mich tiefer fallen lassen, als mir lieb ist.
Ich lande auf den Knien im gekiesten Blumenbeet unter dem Fenster, reiße mir Löcher in meine dicke schwarze Strumpfhose und schürfe mir die Hände auf. Aber ich bin draußen.
Ja!
Ich kann das Wort zwar nicht herausschreien, aber triumphierend in die Luft boxen.
Ich wende mich nach rechts, Richtung Anbau. Dann schiebe ich mich an der Glasfront entlang zur Seitenwand des Anbaus, die hinter dem Verbindungsgang hervorragt. Nervös drücke ich mich in den Schatten des Gebäudes und hole ein paarmal tief Luft.
Nachdem ich wie ein verängstigter Vogel von einer Seite zur anderen geschaut habe, biege ich um die Ecke.
Dort bleibe ich stehen und blicke nach oben. Nun befinde ich mich fast genau unter der 9 d, die ein Eckzimmer im ersten Stock hat. Ich kenne den Klassenraum gut. Dort hatte ich in der Achten Französisch.
Hineinsehen kann ich nicht, weil die Rollos unten sind. Genau genommen sind sämtliche Fenster an dieser Seite des Anbaus verdunkelt. Ich kann nur hoffen, dass mich niemand durch einen Spalt zwischen den Rollos beobachtet, so wie ich vor ein paar Minuten die Polizei beobachtet habe, und sich fragt, was ich vorhabe und wie man es verhindern kan n …
Flach an die Wand gepresst husche ich zum Hintereingang, der etwa in der Mitte des Gebäudes liegt. Dabei erwarte ich, jeden Moment einen Ruf zu hören, ein »Stopp!« oder vielleicht sogar: »Stehen bleiben, Hände hoch!«
Aber ich höre und sehe nichts.
Als ich mein Ziel erreiche, atme ich erleichtert auf. Ich drücke gegen die Tür. Auch sie ist abgeschlossen.
Oh Gott! Ich fasse es nicht!
Ich senke den Kopf und raufe mir die Haare. Panik macht sich in mir breit.
Denk nach!
Du kennst die Schule wie deine Westentasche.
Finde einen anderen Weg.
Ich bin kurz vorm Durchdrehen und mein letzter Rest gesunder Menschenverstand drängt mich, aufzugeben und umzukehren, doch stattdessen lasse ich meinen Blick über die Wand des Anbaus schweifen. Die Feuerleiter kann ich nicht nehmen, denn sie ist hinter der nächsten Ecke. Dort wäre das Risiko, von der Polizei gesehen zu werden, ungleich größer.
Es gibt kein offenes Fenster im Erdgeschoss des Anbaus, durch das ich hineinklettern könnte. Doch am äußeren Ende des Gebäudes steht ein einstöckiger Ergänzungsbau mit Flachdach, den man nachträglich als Garderobe für die Schüler im Anbau errichtet hat. Als mein Blick weiter nach oben gleitet, entdecke ich ein kleines Fenster über dem Dach, das einen winzigen Spaltbreit offen steht. Ich denke angestrengt nach, bis mir einfällt, dass dieses Fenster zu den Mädchentoiletten gehört.
Das ist meine einzige Chance. Doch zuerst muss ich auf das Flachdach gelangen.
Wie um alles in der Welt willst du da raufkommen?, frage ich mich.
Auf das Dach zu klettern ist viel schwieriger, als durch das Fenster im Glaskorridor zu steigen. Hier gibt es keine breite Fensterbank, auf die ich mich stellen kann. Die Garderobenfenster haben nur einen schmalen Sims, der meinem Fuß kaum Halt bieten kann.
Dennoch werde ich es versuchen.
Ich wähle das Fenster neben der Regenrinne, die vom Dach bis zum Boden führt. Mühsam
Weitere Kostenlose Bücher