Böser Bruder, toter Bruder
hieve ich mich auf den Sims, doch wie ich vermutet habe, ist er zu schmal, um darauf zu stehen. Leise fluchend und gefährlich schwankend versuche ich vergeblich, mich an dem glatten Metallrohr festzuhalten.
Noch immer schwankend ziehe ich die Krawatte von meiner Hüfte, schlinge sie durch eine Schelle der Regenrinne und halte mich an ihr fest. Dadurch kann ich etwas leichter auf dem Sims balancieren.
Jetzt, wo ich nicht mehr so sehr wackele, strecke ich meine Arme nach oben, dehne jeden einzelnen Muskel, damit ich die Kante des Flachdachs zu fassen kriege.
»Du hast nur eine Chance«, flüstere ich mir zu. Wenn ich beim ersten Versuch scheitere, werde ich höchstwahrscheinlich das Gleichgewicht verlieren und rückwärts runterfallen.
Ich verbanne jeden Gedanken daran, dass ich mit dem Kopf gegen den Beton knallen und mir alle Knochen brechen könnte.
Ich lasse die Krawatte los, umklammere den Rand des Daches mit beiden Händen und stoße mich mit aller Kraft ab. Meine Füße hängen einen Moment lang in der Luft, dann finden meine Zehen am Fensterrahmen Halt.
Es gelingt mir, mich mit dem Oberkörper über die Dachkante zu ziehen. Ich kippe nach vorne und lande auf dem Bauch. Als ich mich auf dem Dach wankend aufrapple, durchströmt mich ein Glücksgefühl.
Einen Moment lang stehe ich mit blutenden Händen da und koste meinen Erfolg aus. Dann wird mir plötzlich bewusst, dass ich hier oben ein leichtes Ziel abgebe, und werfe mich hastig auf die Knie. Das flache Dach ist dreckig, übersät von toten Blättern und schlaffen Fußbällen. Seltsamerweise liegt hier auch ein einzelner Nike-Schuh. Ich greife über die Dachkante, um meine Krawatte loszumachen. Dann schleiche ich geduckt zu dem Fenster, das mir von unten aufgefallen ist. Dummerweise ist es noch kleiner, als ich dachte.
Passe ich da überhaupt durch? Das werde ich nur herausfinden, wenn ich es ausprobiere.
Wieder einmal habe ich keine große Wahl.
Ich versuche, meine Finger durch den schmalen Spalt unter dem Fenster zu schieben, um es hochzudrücken, aber es klemmt. Also hole ich den kleinen Beitel heraus. Das dünne Ende gleitet problemlos in die Lücke, passt perfekt.
Dann drücke ich so fest ich kann gegen den Griff des Beitels, und tatsächlich hebt sich das Fenster ein wenig. Ich lasse den Beitel fallen, denn nun passen meine Finger in den Spalt. Mit aller Kraft schiebe ich es ein Stück hoch, noch ein Stück und noch eins. Dann klemmt es wieder und bewegt sich nicht einen Zentimeter.
Nervös beiße ich mir auf die Innenseite der Wange und starre den Spalt an. Er ist nun breiter als vorher, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich hindurchpasse.
Los geht’s!
Ich schiebe meine Werkzeugtüte durch die Öffnung und lasse sie auf der anderen Seite sachte auf den Boden fallen. Dann klettere ich hinterher, mit dem Kopf voran. Der Spalt ist schmal, und schon überkommt mich die Panik. Ich schaffe es, meine Schultern hindurchzuzwängen, und plötzlich bin ich zur Hälfte drin.
Ich lege die Hände auf das kalte weiße Porzellan des Wasserkastens unter mir und hole tief Luft. Dann fange ich an, mich hin und her zu winden, um den Rest meines Körpers durch die enge Öffnung zu pressen.
Aber nichts passiert.
Obwohl ich mich strecke, drücke und ziehe, komme ich nicht weiter. Es ist wie in einer Slapstick-Komödie, nur finde ich es überhaupt nicht lustig.
Ich bin wie der Korken einer Flasche.
Ich stecke fest.
Elf
Ich bin, wie gesagt, ein Feigling und habe Jamie nie etwas von meinem Verdacht gesagt. Aber in den folgenden Wochen durchforstete ich täglich die Lokalzeitung, um zu sehen, ob die Person, die Dr . Zeelanders Wagen demoliert hatte, geschnappt worden war. Beinahe hätte ich in unserem kleinen Supermarkt Hausverbot bekommen, weil ich immer nach der Schule dort war, die Zeitung durchblätterte und jede Seite genau studiert e – aber nichts kaufte.
Über Dr . Zeelander las ich jedoch nie wieder etwas und schließlich versuchte ich, die ganze Sache zu vergessen. Aber in den tiefsten, dunkelsten, verborgensten Winkeln meines Bewusstseins, den Winkeln, in die wir uns bei Tageslicht nie hineinwagen würden, hatte sich die Überzeugung festgesetzt, dass es Jamie war. Er war mit dem Vorsatz, sich zu rächen, zur Praxis zurückgekehrt und hatte seine Wut auf Dr . Zeelander an ihrem Auto ausgelassen.
Tagsüber konnte ich mit diesen schrecklichen Gedanken erstaunlich gut leben, indem ich mich ablenkte und sie einfach verdrängte. Doch
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