Böser Bruder, toter Bruder
»Sag mir endlich, was du vorhast!«
Jamie antwortete nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob er mich gehört hatte.
»Du machst doch nichts, bevor du es mit mir besprochen hast, oder?«, stammelte ich, als er sich zur Tür wandte. »Versprichst du mir das, Jamie? Versprich mir das!«
Meine Worte hingen noch in der Luft, als er das Zimmer verließ. Er hatte mir nichts versprochen. Er hatte nichts mehr gesagt.
Jamies Andeutungen brachten mich zur Verzweiflung. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er vorhatte, aber ich vermutete, dass er etwas Verrücktes, Waghalsiges plante, womit er uns alle in Gefahr bringen würd e – auch sich selbst.
Wie sollte ich ihn bloß daran hindern?
Ich tat alles Erdenkliche, damit Mum endlich zum Arzt ging. Ich bettelte und flehte und weinte, aber es nützte nichts. Mum schien eine regelrechte Phobie vor Ärzten und Kliniken und Praxen zu haben. Ich weiß nicht, wieso. Auf jeden Fall konnte ich sie mit keinem meiner Argumente umstimmen.
Irgendwann war ich fast so weit, M s Kennedy um Hilfe zu bitten. An einem Freitag, kurz nach den Herbstferien, bat sie mich, nach der Englischstunde dazubleiben. Als alle gegangen waren, legte sie einen Flyer auf das Pult.
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Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich verwirrt zu M s Kennedy aufgeschaut habe.
»Das zeige ich nur einer kleinen Auswahl an Schülern«, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie nickte mir aufmunternd zu. »Du bist eine von ihnen, Mia. Du weißt ja, für wie begabt ich dich halte. Du solltest dich unbedingt anmelden.«
Ich griff nach dem Flyer, las ihn aber nicht gleich. Stattdessen betrachtete ich M s Kennedy. Sie war so schön und strahlte so, dass ich mir neben ihr farblos, langweilig und einfältig vorkam.
Eines Tages würde sie garantiert schöne und intelligente Kinder haben. Sie würde die perfekte Mutter sein, liebevoll, fürsorglich und einfühlsam und sich für alles interessieren, was ihre Kinder sagten oder taten. Ich fragte mich, wie es wäre, wenn ich eine Mutter wie sie hätte. Jemanden, dem ich mich anvertrauen könnte.
»Also, Mia, was denkst du darüber? Du hättest noch viel Zeit. Der Abgabetermin ist erst in ein paar Wochen.«
Plötzlich war der Wunsch, ihr alles zu erzählen, verflogen. Daher senkte ich den Blick auf den Flyer in meiner Hand.
Schreibe einen Aufsatz mit höchstens tausend Wörtern zum Thema: »Mein Leben und die Menschen, die mir am meisten bedeuten«
Ich betrachtete den Wettbewerb als willkommene Herausforderung, aber nicht, weil ich gewinnen wollte, sondern weil er mich von den täglichen Kämpfen mit Mum und Jamies finsteren Plänen ablenkte.
Und als der Aufsatz fertig war, wusste ich, was zu tun war.
Während ich mich Nacht für Nacht in meinem Bett hin und her gewälzt hatte, war mir klar geworden, dass es einen Menschen gab, der uns vielleicht helfen würde, ohne eine Gegenleistung zu verlangen oder uns zu schaden. Das würde nicht leicht sein, aber ich setzte meine ganze Hoffnung darauf.
Jamie und ich wussten nichts über unseren Vater, nicht einmal seinen Vornamen. Wir hatten auch nie versucht, etwas über ihn herauszufinden. Doch nachdem ich mir genau das in den Kopf gesetzt hatte, erwies es sich als erstaunlich einfach.
Wann immer Mum bis in die Nacht feiert e – Jamie fehlte inzwischen genauso oft wie si e –, durchkämmte ich fieberhaft jedes Zimmer nach Hinweisen auf meinen Vater. So hatte ich wenigstens noch etwas anderes zu tun, als ängstlich herumzusitzen und auf die beiden zu warten.
Das Wenige, was ich über ihn wusste, hatte ich mir aus ein paar unbedachten Äußerungen von Opa und Mum zusammengereimt. Ich wusste, dass er wie Mum ursprünglich aus Birmingham stammte und dass sie nach der Hochzeit nach London gezogen waren. Sie hatten sich scheiden lassen, und mein Vater hatte die Stadt wieder verlassen. Das war alles. Doch um ihn ausfindig zu machen, würde ich zumindest seinen vollen Namen brauchen.
Es dauerte ein paar Wochen, aber als ich eines Abends den antiken Mahagonisekretär durchwühlte, der Opa gehört hatte, fiel mir das, wonach ich suchte, buchstäblich in den Schoß. Aus einem alten Adressbuch rutschte ein zerknittertes, aber nichtsdestoweniger amtlich aussehendes Blatt Papier heraus, und als ich es in die Hand nahm, sprang mir mein eigener Name ins Auge: Mia Katherine Jackson .
Ich hatte dieses Dokument noch nie zuvor
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