Böser Bruder, toter Bruder
Tatort war. »Derzeit ist noch unklar, ob der Wagen zufällig in die Hände der Vandalen fiel oder ob der Anschlag bewusst gegen Dr . Zeelander gerichtet war.«
Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der einstweiligen Verfügung, die Dr . Zeelander vergangene Woche gegen ihren Noch-Ehemann erwirkt hat, wollte die Geschädigte nicht kommentieren.
Wer den Tathergang beobachtet hat, wird dringend gebeten, sich bei der örtlichen Polizeidienststelle zu melden.
Ich stand da und starrte so lange auf den Artikel, bis der Filialleiter des Supermarkts kam und mich fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich konnte ihm kaum antworten, weil ich Angst hatte, dass ich mit meinen schrecklichen Gedanken herausplatzen würde, sobald ich nur den Mund aufmachte.
Hatte Jamie den Anschlag auf das Auto von Dr . Zeelander verübt? Er war am Abend zuvor wortlos gegen Viertel vor sechs verschwunden. Und kurz nach acht zurückgekommen.
Das klang total unwahrscheinlich, und ich redete mir verzweifelt ein, dass es nicht sein konnte. Schließlich hatte Caroline Zeelander nicht gerade einen sympathischen Eindruck gemacht. Auch wenn sie erst seit Kurzem in der Praxis arbeitete, hatte sie vielleicht schon den ein oder anderen Patienten gegen sich aufgebracht. Oder die Tat wa r – was der Artikel ja nahelegt e – wirklich ein privater Racheakt.
Aber all diese kleinen Vorfäll e – der mit Michael Riley und ander e – hatten sich im Laufe der Jahre tief in mein Unterbewusstsein gegraben. Langsam und ohne dass ich es mir eingestehen wollte, hatte sich in mir die Gewissheit festgesetzt, dass mein Bruder unberechenbar war. Gefährlich.
Und die Erinnerung an seinen Wutausbruch in Dr . Zeelanders Praxis, weil er sich machtlos fühlte, verschlug mir noch immer den Atem. Die Hilflosigkeit, die er Mum un d – sei ehrlich, Mia ! – mir gegenüber empfand, trieb ihn offenbar an seine Grenzen.
Eine Frage ließ mich jetzt nicht mehr los: Wie weit würde Jamie gehen?
Zehn
Montag, 10. März, 9.35 Uhr
»Nein!«
Wie die Ungläubigkeit in Person stehe ich vor der verschlossenen Doppeltür, die mir den Zugang zum Anbau verwehrt: Meine Augen sind weit aufgerissen, die Fäuste geballt, mein Mund steht offen.
Ich rüttle noch einmal fester an der Tür, werfe mich mit der Schulter dagegen, aber es ist sinnlos. Die Tür ist definitiv zu.
Damit hätte ich nie gerechnet. An Schultagen bleiben die Türen an den Enden des L-förmigen Glaskorridors immer geöffnet. Sie werden höchstens nachts abgeschlossen. Vermutlich hatte ein Lehrer oder vielleicht der Hausmeister die schlaue Idee, den Amokläufer einzuschließen.
Noch während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, was höchstens zwei Sekunden dauert, wird mit bewusst, dass ich nicht die Zeit habe, hier herumzustehen und nachzudenken.
Wenn ich in den Anbau will, bevor die Polizei auftaucht, muss ich diese Türen irgendwie aufkriegen.
Ich reiße die Plastiktüte mit den Werkzeugen von meinem Gürtel. Mein erster Gedanke ist, mit dem Hammer ein großes Loch in die Holzverkleidung der Doppeltür zu schlagen, aber mir wird augenblicklich klar, dass das einen Riesenkrach machen würde. Also nehme ich den größten Beitel und versuche, eine der Türen aufzustemmen.
Ich bin vermutlich die unfähigste Einbrecherin der Welt, denn obwohl ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Beitel lehne, passiert nichts. Die Tür bewegt sich keinen Millimeter.
Vor Wut und Anspannung kann ich nicht einmal in Tränen ausbrechen, was ich sonst immer mache, wenn ich verzweifelt bin. Mir wird bewusst, dass ich auf diesem Weg nicht ins Nebengebäude komme. Nicht durch diese Türen.
Ich muss nach draußen und dort einen Einstieg finden, außer Sichtweite der Polizei.
Und dann höre ich es. Das Geräusch eines Fahrzeugs, das sich dem Schultor nähert. Ich brauche den Sonnenschutz gar nicht zur Seite zu ziehen und nachzusehen, wer es ist, denn das weiß ich auch so.
Die bewaffnete Einsatztruppe rückt an.
Irgendwie muss ich raus aus diesem gläsernen Gang und rüber in den Anbau, bevor ich entdeckt, gefasst oder niedergeschossen werde.
Ich habe nur zwei Möglichkeiten.
Ich kann den Weg zurückgehen, den ich gerade gekommen bin, und den Ausgang neben dem Kunsttrakt nehmen. Von dort aus würde ich hinter der Schule zum Anbau rennen, vorbei an dem Korridor, in dem ich jetzt stehe, und durch den Hintereingang ins Gebäude schlüpfen.
»Aber reicht dazu die Zeit?«, frage ich mich leise,
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