Böser Bruder, toter Bruder
nachts drangen sie erbarmungslos wieder an die Oberfläche und hielten mich über Stunden wach.
Ich wollte es nicht wahrhaben.
Aber das half nichts.
Und was tat ich?
Nichts.
Was hätte ich auch tun sollen?
Ich hatte keine Beweise, und Jamie war mein Zwillingsbruder, den ich liebte und brauchte. Er war der einzige Mensch, auf den ich zählen konnte, wenn auch seltener als früher. Ich klammerte mich hartnäckig an ihn, weil ich sonst niemanden hatte.
Einen Tag nachdem ich den Zeitungsartikel gelesen hatte, fragte ich Jamie: »Was machen wir denn jetzt?« Natürlich erwähnte ich den Artikel mit keinem Wort. Eher hätte ich mir die Zunge abgebissen. Ich sagte auch nichts zu dem Vorfall in Dr . Zeelanders Praxis, da ich instinktiv wusste, dass Jamie nicht darüber reden würde.
»Wie bitte?«, erwiderte er höflich, als sei ich irgendeine Fremde, die ihn auf der Straße angesprochen hatte. »Was wir machen sollen?«
Ich starrte ihn verdattert an. »Na j a, wegen Mum.«
Jamie presste sich die Finger an die Schläfen, als habe er Kopfschmerzen. »Wie oft haben wir schon darüber gesprochen, Mia?«, fragte er übertrieben freundlich. »Aber wenn du willst, gehen wir noch einmal alle Möglichkeiten durch, ja? Also: Wir könnten zum Beispiel beim Jugendamt anrufe n …«
»Nein, Jamie!«
Das Jugendamt hatte keine Ahnung von unseren Problemen, weil wir in den letzten elf Jahren bei Opa ein relativ normales Leben geführt hatten. Und ich war mir auch nicht sicher, ob sie uns wirklich ernst nehmen würden. Es war ja nicht so, dass Jamie und ich nicht selbst auf uns aufpassen konnten oder dass Mum uns Gewalt angetan hätte. Zumindest nicht körperlich. Sie schrie ziemlich viel rum und warf mit Gegenständen um sich, aber sie hatte uns noch nie geschlagen. Wir hatten zu essen und ein Dach überm Kopf.
Außerdem nagte eine schreckliche Angst an mir: Wenn wir das Jugendamt einschalten würden, könnte man uns auseinanderreißen.
Jamie seufzte. »Wovor hast du bloß solche Angst, Mia?«
»Ich will nicht ins Heim!«, schrie ich. Mir schossen Tränen in die Augen und ich musste heftig schlucken und blinzeln, um sie zurückzuhalten, denn Jamie verabscheute es, wenn ich Schwäche zeigte. »Das Risiko kann ich nicht eingehen.«
»Ist ja gut«, gab Jamie nach. »Trotzdem musst du härter werden, Mia. Im Augenblick würdest du im Heim keine fünf Minuten alleine durchhalten.«
»Aber ich wäre doch nicht alleine«, sagte ich hastig. »Du wärst ja bei mir.«
Wieder dieser seltsame, rätselhafte Ausdruck auf Jamies Gesicht.
» Ich werde nicht ins Heim gehen«, sagte er mit beängstigender Gewissheit. Seine Augen waren so schwarz und undurchdringlich wie der Nachthimmel, als er den Blick von mir abwandte. »Und was ist mit Mr s Francis?«
»Der Schulpsychologin?«
»Ja.«
Allein der Gedanke ließ mich schaudern. »Ich will nicht, dass jemand aus der Schule erfährt, was mit Mum los ist.«
Damit meinte ich die anderen Kinder. Ich konnte mir gut vorstellen, welche blöden Kommentare sie dann ablassen würden. Einige der Lehrer wussten über unsere Situation Bescheid, aber ich hatte ihnen nicht erzählt, dass Opa gestorben war. Jamie wohl auch nicht. Also mussten sie annehmen, dass bei uns zu Hause noch alles in Ordnung war.
»Dann gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen Mum zum Arzt bringen, damit sie eine Therapie macht«, sagte Jamie ungeduldig. »Und selbst wenn der Arzt das Jugendamt informieren sollte, wird nichts Drastisches passieren, denn mit den Pillen wird Mum wieder gut drauf sein. Diesmal gehen wir aber nicht zu dieser unfähigen Zeelander-Kuh.« Er lächelte kalt und geheimnisvoll vor sich hin, und ich musste wegsehen. »Such uns einen anderen Arzt.«
»Aber Mum wird nicht zum Arzt gehen, und damit sind wir wieder am Anfang«, sagte ich in diesem mutlosen, weinerlichen Ton, der Jamie wahnsinnig machte, doch ich konnte nicht anders.
Jamie schüttelte den Kopf. »Nein, sind wir nicht.« Seine Fingerknöchel traten weiß hervor und verrieten seine innere Anspannung. »Denn dieses Mal machen wir es anders.«
»Und wie?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er mit unnatürlich ruhiger Stimme. »Das muss ich mir noch überlegen. Vielleicht ist das unsere letzte Chance, es darf also nichts schiefgehen.«
Mir stockte der Atem. Es kam mir vor, als würde ich in einen dunklen, luftlosen Tunnel fallen, der kein Ende hatte.
»Du machst mir Angst, Jamie.« Jetzt konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten.
Weitere Kostenlose Bücher