Böser Bruder, toter Bruder
gesehen, aber es war klar, dass es sich um meine Geburtsurkunde handelte. Mit zittrigen Fingern glättete ich das Papier und hoffte inständig, dass der Name meines Vaters darauf vermerkt worden war.
Und so war es.
Vorname und Nachname des Vaters: Leo Dominic Jackson
Beruf des Vaters: Grafiker
Dem folgte eine Adresse in London. Ich nahm an, dass Mum dort gewohnt hatte, als Jamie und ich geboren wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater London bereits verlassen.
Vielleicht war er inzwischen dorthin zurückgekehrt. Ich hoffte es nicht, denn für ein Ticket nach London hätte ich mindestens zehn Jahre lang sparen müssen.
Aber vielleicht war er ja auch wieder in seine Heimatstadt Birmingham gezogen, wie Mum es getan hatte.
Auf jeden Fall würde ich beide Möglichkeiten abklopfen.
Jamie erzählte ich nichts von meinem Vorhaben. Ich wollte ihm beweisen, dass ich fähig und stark genug war, unsere Probleme anzupacken. Ich wollte, dass er stolz auf mich war.
Vielleicht fürchtete ich mich auch insgeheim davor, dass die Aktion in einer totalen Katastrophe enden könnte.
Von nun an verbrachte ich unzählige Stunden in der Bibliothek und schrieb mir die Adressen und Telefonnummern aller L . D. Jacksons heraus, die in London oder Birmingham gemeldet waren. Das kostete mich einige Wochen. Dann verkaufte ich ein paar von Opas schönen, hauchzarten Porzellanschalen an einen Secondhandshop, weil ich Geld für die vielen Telefonate brauchte. Das tat mir im Herzen weh, aber ich sah keine andere Möglichkeit.
Immer wenn Mum und Jamie außer Haus waren, ging ich zur Telefonzelle am Ende unserer Straße und wählte die nächste Nummer auf meiner Liste.
»Hallo. Ich suche einen Leo Dominic Jackson.«
»Tut mir leid, hier wohnt keiner, der so heißt.«
Während der Weihnachtsferien arbeitete ich die Londoner Liste ab, dann nahm ich mir die Nummern in Birmingham vor. Mir war klar, dass Leo Jackson überall sein konnte. Vielleicht war er ausgewandert, vielleicht war er schon tot. Aber zumindest hatte ich das Gefühl, dass ich die Sache anpackte.
Im Januar, als die Schule wieder begonnen hatte und ich langsam die Hoffnung verlor, ihn jemals zu finden, wählte ich eine Nummer, die zu einer Adresse am anderen Ende der Stadt gehörte.
»Leo ist im Augenblick leider nicht da«, sagte eine weiche Frauenstimme mit amerikanischem Akzent. »Kann ich ihm etwas ausrichten?«
Ich legte auf, denn plötzlich wurde mir schlecht. Mir war schummrig im Kopf und ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Ich musste mich an den Wänden der Telefonzelle abstützen.
Bis zu diesem Moment hatte ich mich, so verrückt es auch klingen mag, nur darauf konzentriert, wie ich Mum helfen und Jamie zeigen konnte, dass es einen Weg aus unserem Dilemma gab. In meinem Vater sah ich dabei die Lösung für all unsere Probleme. Ich hatte nicht ernsthaft darüber nachgedacht, wie es sein würde, ihm zum ersten Mal zu begegnen.
Und nun hämmerte mein Herz so fest gegen meine Rippen, dass es wehtat, mein Magen verkrampfte sich, und meine Nerven waren kurz vorm Zerreißen.
Die Reaktion meines Körpers war schon schlimm genug, aber noch mehr schlauchten mich meine widersprüchlichen Gefühle: Panik und Freude durchströmten mich, ich war vor Furcht wie gelähmt und brodelte gleichzeitig vor Energie.
Am nächsten Samstag stahl ich mich aus dem Haus, um quer durch die Stadt zu Leo Jackson zu fahren. The Pines , Gladstone Road. Es war ein frostiger Tag, und die Busfahrt dauerte eine Ewigkeit. Aber ich war so in Gedanken, dass ich die Entfernung gar nicht wahrnahm.
Ich hatte keinen Plan. Keine Ahnung, was ich Leo Jackson sagen sollte. Ich wusste nicht einmal, ob ich den Mut aufbringen würde, an seine Tür zu klopfen. Leo Jackson hatte offensichtlich eine Frau oder eine Freundi n – vielleicht hatte er ja auch noch andere Kinder. Meine Halbgeschwister.
Wusste Leo Jackson eigentlich, dass Jamie und ich existierten? Falls ja, warum hatte er sich dann all die Jahre nicht gemeldet?
Falls nicht, bekäme er gleich den Schock seines Lebens.
Ich war noch nie zuvor in der Gladstone Road gewesen. Hier gab es nur frei stehende, riesige, makellose Häuser mit langen Auffahrten und gepflegten Gärten. Neue BMWs, Jaguars und Mercedes lauerten vor den Garagen wie Bodyguards.
Das Haus mit dem Namen The Pines lag zwischen The Firs und The Beeches . Ich stand am Rand des Grundstücks und blickte zum Haus hinauf. Die edlen Vorhänge an den Fenstern, der japanisch anmutende
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