Böser Bruder, toter Bruder
nie begegnet, weil sie sich mit ihnen zerstritten hatte. Sie waren damals nicht einmal zu unserer Hochzeit gekommen. Ich machte sie ausfindig, erzählte ihnen, was geschehen war, und gab ihnen Annabels Adresse in London. Da war sie allerdings schon weggezogen.«
»Opa hat nicht aufgegeben«, sagte ich leise. »Wir sind mehrmals umgezogen, aber er suchte weiter und schließlich fand er uns. Währenddessen bist du auf und davon in die USA und zu deinem tollen neuen Job.«
Einen Moment lang flackerte Wut in seinen Augen auf, was mich an Jamie erinnerte, aber er verzog dabei keine Miene.
»Es war nicht leicht, Mia«, sagte er gepresst. »Auch wenn es den Anschein hat. So was ist immer kompliziert, glaub mir.«
Wir schwiegen beide eine Weile.
Ich hatte so viel im Kopf, so viele Fragen, über die ich erst im Stillen nachdenken musste. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte, nach all den Jahren der Vernachlässigung und des Elends. Es gab zu viel zu sagen und zu wenige Worte, um es auszudrücken. Ich bin nicht nur körperlich feige, sondern auch in Gefühlsdingen, und es kam mir auf einmal vollkommen unmöglich vor, auch nur den Versuch zu machen, irgendeine Art von Beziehung zu ihm aufzubauen.
Wollte ich das überhaupt?
Und Leo?
»Warum hast du nach mir gesucht?«, brach Leo schließlich das Schweigen.
Aus meiner Sicht hatte ich nichts mehr zu verlieren.
»Wir brauchen Hilfe«, sagte ich leise. Das entsprach der Wahrhei t – wir brauchten dringend konkrete Hilf e –, aber inzwischen fragte ich mich, ob die emotionalen Belastungen, die ich bisher geflissentlich außer Acht gelassen hatte, kein zu hoher Preis dafür waren. »Seit Opa tot ist, wird es mit Mum immer schlimme r …«
Auch wenn es mich nicht überraschte, machte es mich traurig, dass Leo Jackson regelrecht in Panik geriet und das, noch bevor ich überhaupt ausgeredet hatte.
»Was meinst du mit Hilfe ?« Er musste erst mal schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Wenn ihr Geld brauch t …«
Ich hätte mir natürlich denken können, dass er uns Geld anbieten würde. Jemand wie er, der offensichtlich eine Menge davon hatte, nahm wahrscheinlich automatisch an, dass ein dicker Scheck der schnellste und einfachste Weg war, uns wieder loszuwerden.
»Geld wäre nützlich«, antwortete ich aufrichtig, »aber deshalb bin ich nicht hier. Mum muss unbedingt in ärztliche Behandlung und ihre Medikamente nehmen. Sie sollte am besten wieder zu dem Therapeuten gehen, bei dem sie war, als Opa noch lebte. Vielleicht könntest du ja mal vorbeikommen und mit ihr reden?«
Leo Jackson riss entsetzt die Augen auf. »Nein, auf gar keinen Fall!« Er wirkte so außer sich, dass ich unter anderen Umständen sicher Mitleid mit ihm gehabt hätte. »Ic h … meine Frau weiß nichts von dir und Jamie. Und ich kann es ihr auch nicht sagen. Wenn sie herausfindet, dass ich sie belogen habe, wird sie mich vielleicht verlassen und die Kinder mitnehme n …«
Also hatte ich tatsächlich Halbgeschwister. Und nach dem Haus zu urteilen, schienen sie ein perfektes Leben zu haben, mit einer Mutter und einem Vater, die sie liebten.
»Vielen Dank für deine Unterstützung!«, sagte ich mit kalter Stimme, während ich meine Tränen eisern zurückhielt. »Es tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.«
Ich wandte mich um und rannte los. Erst jetzt ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
»Mia!«, rief mir mein Vater hinterher. »Bleib stehen! Wir können darüber reden. Ich gebe dir Geld. Du musst mir nur sagen, wie viel du brauchs t …«
Schweigegeld, dachte ich verächtlich. Um seine Haut zu retten.
Als ich die nächste Straßenecke erreichte, nahm ich eine Gestalt wahr, die dort auf der Gartenmauer saß. Durch den Tränenschleier sah ich sie nur verschwommen. Daher hätte ich vor Schreck fast geschrien, als eine Hand vorschoss und mich am Arm packte.
»Mia, alles okay?«
Es war Jamie!
»Wa s … was machst du denn hier?«, stieß ich hervor und versuchte hastig, meine Tränen zu verbergen, doch natürlich konnte ich ihm nichts vormachen.
Jamie zuckte die Achseln. »Ich passe auf dich auf, wie immer.« Sein Blick wanderte suchend die Straße hinauf. »Er ist weg, Mia.«
Ich drehte mich um und sah zurück zu der Stelle, an der mein Vater und ich eben noch gestanden hatten. Da war niemand. Leo hatte es nicht einmal für nötig gehalten, mir nachzulaufen. Das verletzte mich zutiefst. Aber was hatte ich auch anderes erwartet? Es war schließlich nicht das erste Mal,
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