Böser Bruder, toter Bruder
mich Zentimeter für Zentimeter vorarbeite, kann ich einen schmalen Lichtstreifen unter der Tür zur 9 d ausmachen. Und ein dünner Lichtstrahl weist mir den Weg zum Schlüsselloch.
Erneut sinke ich auf die Knie, und erneut gebe ich acht, die Tür nicht zu berühren. Mein Herz pocht entsetzlich laut, als ich mich vorbeuge und mein Auge ganz dicht ans Schlüsselloch bringe.
Und dieses Mal kann ich in den Raum sehen.
Das Blickfeld ist eingeschränkt, aber ich sehe Leute an den Tischen sitzen. Sie leben, sie bewegen sich ab und zu kaum merklich und Erleichterung durchflutet mich. Kat Randall kann ich nicht entdecken, dafür aber Mr s Lucas an ihrem Pult. Sie hält den Kopf gesenkt.
Ich verrenke mich ein wenig, um mehr von dem Klassenraum sehen zu können, aber das Schlüsselloch ist klein und gibt nicht mehr preis. Jamie kann ich nicht ausmache n – aber auch niemand anderen mit einer Waffe.
Ich richte mich auf. Wieder frage ich mich, was ich jetzt tun soll, und mir fällt nur eins ein: Ich werde in den Gang zurückkehren, das eine oder andere Geräusch machen und den Geiselnehmer auf diese Weise aus der Klasse locken. Und dann verstecke ich mich.
Und erst wenn ich weiß, ob es Jamie oder jemand anders ist, entscheide ich, wie ich weiter vorgehe.
Brees Worte kommen mir in den Sinn, und ich kann nur hoffen, dass er keine Maske trägt, denn ich habe keinen Pla n B.
Ich drehe mich um und will die Kammer so lautlos verlassen, wie ich hereingekommen bin. Aber während ich meine Hände ausstrecke, um mich an den Regalen entlangzutasten, geben die Henkel der dünnen Plastiktüte an meinem Gürtel unter dem Gewicht des Hammers nach und rutschen aus der Schlaufe.
Ich bemerke es nicht, bis der Hammer zu Boden kracht und der gesamte Anbau unter dem Lärm zu erbeben scheint.
Fünfzehn
Montag, 10. März, 10.10 Uhr
Nun muss ich meinen Plan etwas früher in die Tat umsetzen als gedacht.
Während im Klassenzimmer nebenan Geschrei ausbricht, taumele und stolpere ich zum Ausgang der Kammer. Dabei stoße ich gegen Regale, und links und rechts von mir poltern Bücher zu Boden.
Ich erreiche den Ausgang, packe die Klinke, und wieder klemmt die Tür. Schluchzend und keuchend werfe ich mich dagege n – und sie fliegt auf.
Als ich aus der Abstellkammer stürze, höre ich ein unverkennbares Geräusch: Jemand versucht hektisch, eine Tür aufzuschließen. Das Geschrei ist schlagartig verstummt.
Oh Gott! Oh Gott!
Ich renne schneller, als ich je gerannt bin. Ich renne im wahrsten Sinne des Wortes um mein Leben. Meine Nase läuft, meine Augen tränen, ich ringe um Atem. Ich wage es nicht, über die Schulter zu schauen, um nachzusehen, was sich hinter mir abspielt . Ich muss die Ecke erreichen, bevor man mich sieht, bevor jemand auf mich zielen kan n …
Meine Muskeln brennen, als ich endlich um die rettende Ecke biege. Gleichzeitig höre ich, wie hinter mir die Tür zum Klassenraum aufgerissen wird. Einen kurzen Moment lang passiert nichts, dann ertönen schwere Schritte, die in meine Richtung laufen.
Jemand sucht nach mir!
Der Amokläufer kann doch seine Geiseln nicht unbewacht lassen, oder? Aber vielleicht hat er ja noch eine andere Methode gefunden, wie er sie in Schach halten kann.
Es kann sonst niemand anderes sein.
Es ist ganz sicher der Amokläufer, und er verfolgt mich!
Er ist nur ein paar Meter weit weg, hinter der Ecke.
Seltsamerweise werde ich angesichts der drohenden Gefah r – vielleicht sogar meines eigenen Tode s – innerlich ruhig. Als hätte sich ein Schalter in meinem Hirn umgelegt und mich in einen gefühllosen Roboter verwandelt.
Das ist meine Chance herauszufinden, ob es sich um Jamie handelt oder nicht.
Ich muss mich irgendwo verstecken, wo ich etwas sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. Und zwar schnell!
Die Schritte kommen immer näher. Ich laufe auf Zehenspitzen wie eine Balletttänzerin, haste in einen Klassenraum und verberge mich im Schatten hinter der Tür, die ich ein Stück offen lasse. Ich spähe durch den Spalt nach draußen. In der Klasse herrscht dämmriges Licht, wie auch im Gang, aber um Jamie zu erkennen, brauche ich keine Festbeleuchtung.
Ich werde es wissen. Ich werde spüren, wenn er es ist.
Jemand biegt um die Ecke. Er hat sein Tempo verlangsamt und bewegt sich vorsichtig vorwärts. Das leise Auftreten seiner Füße ist kaum hörbar. Frustrierenderweise ist die Sicht durch den Türspalt so eingeschränkt, dass ich nicht herausfinden kann, um wen es sich handelt.
Dann
Weitere Kostenlose Bücher