Böser Bruder, toter Bruder
höre ich, wie sich die Tür des Nachbarraums öffnet. Dann die gegenüber.
Er kontrolliert alle Räume!
Plötzlich wird die Tür, hinter der ich stehe, weiter aufgedrückt. Meine Knie geben nach und wollen einknicken, aber irgendwie finde ich die Kraft, nicht nur aufrecht stehen zu bleiben, sondern auch keinen Mucks von mir zu geben. Lediglich die Tür, eine dünne Holzplatte, trennt den Täter von mir. Auf der anderen Seite höre ich flaches, viel zu schnelles Atmen im Gleichklang mit meinem.
Jamie, ich bin’s! Ich konzentriere mich ganz auf die telepathische Verbindung, die wir einmal hatten und die ich jetzt so dringend brauche.
Jamie ist hier, da bin ich mir ganz sicher. Dieses Gefühl ist so stark, dass sich meine Nackenhaare sträuben und ich schaudere.
Hinter der Tür muss mein Bruder sein.
Aber meine Angst mahnt mich zur Vorsicht, und ich bleibe in meinem Versteck. Auf der Flucht aus der Abstellkammer musste ich den Hammer liegen lassen, daher bin ich jetzt vollkommen unbewaffnet. Ich darf meinem Instinkt, meinem Gefühl nicht hundertprozentig traue n – dafür ist das Risiko zu gro ß –, ich muss ihn sehen.
Nun geht er wiede r …
Ich höre, wie er durch den Flur davonschleicht. Er entfernt sich von mir und schaut dabei offensichtlich auch noch in die anderen Räume dieser Etage.
Er sucht mich immer noch.
Wieder spähe ich hinaus, in der Hoffnung, endlich einen Blick auf ihn zu erhaschen. Da er die Tür ein Stück aufgestoßen hat, ist der Spalt zwischen Tür und Rahmen breiter geworden.
Ich sehe die schwarz gekleidete Person, kurz bevor sie um die nächste Ecke biegt. Sie trägt einen blauen Rucksack auf dem Rücken.
Ich sehe auch die schwarze Pistole in ihrer Hand. Es ist nicht Opas Pistole.
Mein Gott!
Das ist nicht Jamie.
Sechzehn
Montag, 10. März, 10.17 Uhr
Draußen kommt die Sonne hinter den Wolken hervor. Sie späht um die Ränder der Rollos und spendet den Gängen und Räumen etwas mehr Licht. Ich bleibe, wo ich bin, weil mir meine Beine nicht gehorchen wollen. Ich zittere unkontrolliert. Übelkeit droht mich zu übermannen, und ich presse mir die Hand auf den Mund, damit ich mein Essen bei mir behalte.
Der Amokläufer ist nicht Jamie!
Jetzt begreife ich erst, in welch großer Gefahr ich schwebe.
Die Gestalt in Schwarz ist etwas kleiner und viel stämmiger als Jamie. Das ist nicht mein Bruder, da bin ich mir ganz sicher.
Doch ich bin mir auch sicher, dass Jamie im Anbau ist. Irgendwo in der Nähe.
Was macht er hier? Ist ihm etwas zugestoßen?
Wo genau ist er?
Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf, und wieder presse ich mir die Hand auf den Mund, aber diesmal, um das Geräusch zu ersticken.
Jetzt stehe ich vor einer ganz anderen, aber nicht weniger schwierigen Entscheidung. Soll ich zurückgehen und versuchen, den Geiseln zu helfen? Oder soll ich besser von hier verschwinden und mich selbst in Sicherheit bringen? Mir fällt ein, dass mindestens zwei Ausgänge zugesperrt sind. Vielleicht trifft das auch auf alle anderen zu.
Dann käme ich hier sowieso nicht raus.
Außerdem will ich nicht einfach abhauen, bevor ich weiß, was mit Jamie los ist.
Ich lehne mich gegen die Tür, während mir lauter konfuse Gedanken durch den Kopf wirbeln. Gedanken an Jamie, die Klass e 9 d, Mr s Lucas und die Scharfschütze n …
Wie kann ich allen, einschließlich mir selbst, helfen?
Ich treffe eine Entscheidung.
Ich verlasse den Raum und folge der schwarz gekleideten Gestalt.
Bin ich verrückt geworden?
Wahrscheinlich.
In meinem Schädel setzt sich nur ein Gedanke fest: Ich muss den Kerl irgendwo einsperren.
Keine Ahnung, wie.
Als ich die nächste Ecke erreiche, bleibe ich abrupt stehen, drücke mich gegen die Wand und sammle Mut. Kann ich es wagen, um die Ecke zu blicken? Ich hoffe inbrünstig, dass er nicht hört, wie wild mir das Herz in der Brust pocht.
Unweigerlich stelle ich mir vor, dass er direkt hinter der Ecke mit der erhobenen Waffe auf mich lauert, und ich bekomme eine Gänsehaut.
Ich warte noch ein paar Sekunden, aber ich weiß, dass ich das Risiko eingehen muss. Mir bleibt nichts anderes übrig. Also recke ich den Hals wie eine nervöse Schildkröte und blicke um die Ecke.
Puh!, da ist niemand.
Aber als ich mich gerade von der Wand lösen und weitergehen will, sehe ich eine Silhouette in der offenen Tür des Chemielabors, angestrahlt von den Sonnenstrahlen, die zwischen den Rollos durchdringen.
Seine Silhouette.
Er sucht immer noch nach mir.
Ich ziehe
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