Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Böser Engel

Böser Engel

Titel: Böser Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Carter
Vom Netzwerk:
oben herab an, »… das Cindy Freelawns Platz ist und du ihn ihr weggenommen hast. Diebstahl ist eine Sünde, Stuart.«
    Ich fasse es nicht, dachte ich.
    »Es gibt genug andere freie Plätze«, sagte ich wahrheitsgemäß. In jedem Klassenzimmer blieben stets fünf oder sechs Plätze frei.
    »Setz dich gefälligst woandershin«, knurrte Paul. »Du beschmutzt Cindys Platz.«
    »Ich beschmutze ihn?«, entfuhr es mir. Es fehlte nicht mehr viel, und ich würde die Beherrschung verlieren. Und Paul war in meinen Augen sowieso schon immer eine Knalltüte gewesen.
    »Du hast es erfasst«, erwiderte Paul. »Also mach dich vom Acker, Selbstbeflecker.«
    »Nein«, gab ich zurück. »Ich bleibe, wo ich bin.«
    »Falsche Antwort«, sagte Paul, packte mich am Hemd und zog mich auf die Füße.
    »Pfoten weg!«, rief ich und zerrte an seinem Pullover.
    »Pack mich bloß nicht an!«, fauchte Paul und schleuderte mich gegen die Wand. »Wag es nie wieder, mich mit deinen Wichsgriffeln zu berühren.«
    »Du meinst so?«, fragte ich und versetzte ihm einen Schubs, so dass er gegen Cindy Freelawn stolperte, die hinter ihm gestanden hatte.
    »Jetzt reicht’s!«, schrie Paul, sprang mit einem Satz nach vorne, packte mich erneut und riss die linke Faust nach hinten.
    »Ähm …«
    Zeitgleich richteten Paul und ich den Blick auf den Türrahmen. Nicht unser Religionslehrer Mr. Jakeshore stand dort, sondern ein anderer Mann. Und dieser Mann war groß, durchtrainiert und attraktiver als alle anderen Kerle, die ich je zuvor gesehen hatte. Noch im selben Moment verspürte ich eine Woge der Lust über mich hinwegrollen.
    Doch das Gefühl verebbte so schnell, wie es gekommen war. Tiefe Furcht regte sich in mir. Ich spürte deutlich, dass ich soeben die Bekanntschaft des gefallenen Engels gemacht hatte.

 
     
     
     
     
     

     
     
    »Störe ich etwa?«, fragte der gefallene Engel mit lieblicher Stimme.
    »Nein, Sir«, erwiderte Paul und ließ von mir ab. »Wir haben uns nur …«
    »… vollkommen danebenbenommen, das sehe ich auch so«, beendete der Engel den Satz. »Ich weiß nicht, was mein Vorgänger euch alles hat durchgehen lassen«, fuhr er fort und trat in die Mitte des Raums, »aber unter meiner Aufsicht werdet ihr die Hausordnung befolgen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
    »Ja, Sir«, sagten Paul und ich wie aus einem Munde.
    »Setzen!«
    Wir taten, was er sagte. Ich ließ mich auf dem Stuhl am Fenster nieder, während Paul auf die Knie sank und im Eiltempo zu seinem Platz krabbelte.
    Unter anderen Umständen hätte ich ihn ausgelacht, aber mir war klar, dass ich dasselbe getan hätte. Etwas in der Stimme des Engels – oder vielleicht in seinem Blick – machten Ungehorsam unmöglich.
    Das könnte ein Problem werden, dachte ich.
    »Klasse«, redete der Engel uns an und stellte sich vor das Pult. »Ich bin der neue Religionslehrer. Mein Name ist Leopold Brightly. Ich verbitte mir, dass ihr mich Leopold nennt. Und schon gar nicht Leo.« Er funkelte ein Mädchen in der letzten Reihe an, das daraufhin in sich zusammensank. »Ich reagiere nur auf Mr. Brightly oder Sir. Irgendeine Vorstellung …«, jetzt starrte er einen Jungen in der ersten Reihe an, »… welche von beiden Varianten ich bevorzuge?«
    »Sir?«, sagte der Junge mit zittriger Stimme.
    »Korrekt«, antwortete Brightly. »Kommen wir jetzt zu meinen Regeln, die ihr ausnahmslos zu befolgen habt, wenn ihr den Kurs bestehen möchtet. Erstens: Alle müssen sich am Unterricht beteiligen. Falls ihr mir erzählen wollt, ihr wäret zu schüchtern, könnt ihr euch diesen Unsinn gleich sparen. Wenn ihr zu ängstlich seid, um das Wort Gottes zu verkündigen, dann habt ihr nichts in seinem Königreich verloren. Zweitens: Ich dulde keine Diskussion darüber, was ich euch lehre. Jeder, der die Heilige Schrift hinterfragt, zweifelt an Gott. Mag sein, dass euch diese Haltung faschistisch erscheint.« Dabei sah er Cindy mit durchdringendem Blick an, woraufhin sie verängstigt nach Luft schnappte. »Aber so läuft das bei mir nun mal. Und drittens«, sagte er und hob drohend einen Finger, »werdet ihr von der ersten bis zur letzten Minute meines Unterrichts die Hände auf dem Tisch lassen, wo ich sie sehen kann. Haben wir uns verstanden?«
    »Ja, Sir«, antworteten wir im Chor.
    »Prima«, entgegnete Brightly und nahm mich gründlich ins Visier.
    Noch nie zuvor hatte ich so große Angst verspürt.
    Er wusste, was ich getan hatte.
    Und ich fühlte mich deshalb dreckig und verlogen.
     
    Der

Weitere Kostenlose Bücher