Böser Engel
meiner Ketten. Dann kamen zwei freundliche privilegierte Häftlinge, die mir Augentropfen verabreichten und mir halfen, die Hose trotz der Ketten hinunterzustreifen, sodass ich die Toilette benutzen konnte. Ich kam mir vor wie ein Kleinkind, aber ihre Scherze linderten die Demütigung.
Wann immer ich allein war, litt ich an Klaustrophobie. Die Ketten, das Gitter und die Finsternis zermürbten mich, aber es war der Juckreiz, der mich irgendwann zwang, gegen meine Ketten zu kämpfen. Eines Tages, als ein Auge juckte, gelang es mir, die Fesseln nach und nach ein klein wenig zu lockern, wie Houdini. Dann rief ich den Sheriff und zeigte ihm, dass ich meine Augen erreichen konnte und sie mir dennoch nicht ausgerissen hatte. »Reno, diese Ketten tun mir nicht gut«, bettelte ich. »Ich will sie loswerden. Können Sie etwas tun?«
»Mal sehen«, sagte er ausweichend, aber die Eisen wurden nach und nach gelockert und schließlich entfernt.
Da wir keinen persönlichen Kontakt hatten, entdeckten Helen und ich das, was der Kaplan »das Wunder des Papiers« nannte. Wir schrieben fast ohne Unterlass und legten nur Pausen ein, um zu essen, Gymnastik zu machen, zu schlafen, Besucher zu empfangen und auszusagen. Meist schrieben wir fünf bis zehn Briefe am Tag. Ein Priester, privilegierte Häftlinge, Anwälte, Wärter und Wärterinnen stellten insgesamt 500 Briefe zu. Helens erster Brief vom 10. November wurde mir vorgelesen, weil ich nicht sehen konnte:
»Schatz, ich hab vergessen, dir etwas zu sagen. Wenn du den Rosenkranz gebetet hast und das Licht ausgeht, dann denk an mich, denn ich denke dann sehnsüchtig an dich. ... Aber wenn du vorher müde wirst, dann denk einfach vor dem Einschlafen an mich. Ich liebe dich.«
Meine Antwort diktierte ich einem privilegierten Häftling:
»Jedes Mal, wenn ich mich schlafen lege, denke ich an dich. Ich höre, wie du mir etwas ins Ohr flüsterst. Vorläufig genügt es mir, dich durchs Gitter zu sehen, aber wir werden bald wieder beisammen sein. Ich hoffe, wir können bald draußen bei den Kindern sein. ... Alles Liebe, George.«
»Baby«, schrieb ich am 11. November, »ich hoffe, sie lassen uns wieder beisammen sein, damit wir bumsen können und ich überlegen kann, wie wir hier rauskommen. Du bist sogar schön, wenn ich nur verschwommen sehe. ... Ich hoffe, sie nehmen mir heute oder bald die Fesseln ab, denn die gehen mir gewaltig auf den Sack, und mein Kumpel Jim keine Lust mehr hat, mir den Hintern zu putzen. Ha, ha. Alles Liebe, George.«
»Guten Morgen«, schrieb sie am 12. November. »Also, jetzt sind es schon zwei Wochen – Mann, mir kommen sie wie zwei Jahre vor. ... Es regnet schon wieder. Kannst du rausschauen? Was ist mit deinen Augen? Hast du immer noch große Schmerzen? ... Es war schwer, einen Bleistift zu bekommen. LaVonne (die Aufseherin) riet mir, das Ende mit dem Radiergummi zu benutzen, wenn ich mir in die Augen stechen wolle (ha, ha).«
Das war meine Botschaft am 15. November: »Schätzchen, wie geht es dir, du meine Leibspeise? Hoffentlich darf ich dich heute Abend wieder besuchen. ... Schreib mir ein paar Zeilen und plaudere mit mir. ... Alles Liebe, dein Zyklop.«
Am 17. November gestand sie: »Lieber George, als ich dich pfeifen hörte, traute ich meinen Ohren nicht. Ich musste einfach antworten. Ich hab geglaubt, du kommst zu mir, und als du nicht gekommen bist, war ich so enttäuscht. Die Aufseherin Joyce sagte: ›So nah und doch so fern.‹ Ich war so traurig, weil ich ihr zustimmen musste. ...«
Am Samstagabend, den 18. November, berichtete ich triumphierend: »Habe endlich diese verdammte Fliege in meiner Zelle erwischt – zwei Schläge mit einer Sandale. Ich hatte die Fliege mit einem großen Fahndungsplakat gesucht, das dieser alte Saufbruder namens Doc Holiday für mich gezeichnet hatte. Als Belohnung hatte ich drei Tagesrationen Zigaretten ausgesetzt. Jetzt darf ich meine Belohnung selbst einstreichen. ... PS: Was mein schlimmes Auge anbelangt – ich glaube, es wird wieder. Gott sei Dank.«
»Du wirst es nicht glauben«, kritzelte sie zurück, »aber mein Auge zwinkert andauernd, und ich reibe es behutsam. Und während ich das tue, denke ich an dich und sage zu mir: ›Bitte lass sein Auge gesund werden. Bitte.‹ Das mache ich seit ungefähr fünf Tagen. ...«
Ich schrieb am 20. November: »An Tage wie diesen werden wir uns bis ans Ende unseres Lebens erinnern. ... Es tat wirklich gut, dich zu berühren und deine Hand zu halten. Ich
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