Boeser Traum
ist Emilia?«, fragt sie sofort.
»Hallo, ich bin Julius«, sagt er nur.
»Wo ist Emilia?«, wiederholt Charlotta ängstlich.
Die Fragen in ihrem Kopf rennen um die Wette. Jede will gewinnen. Hat er noch mehr zu trinken? Hat er was zu essen? Wo ist Emilia? Bringt er sie jetzt endlich heim?
»Du hast bestimmt Hunger und Durst«, sagt Julius leise. Er versucht flach zu atmen.
Wie ein verschrecktes Tier steht Charlotta da. Sie ist ein paar Meter rückwärtsgegangen, steht mit dem Rücken zur Wand. Sie registriert, dass dieser Junge die Tür hinter sich schlieÃt und davor stehen bleibt. Was soll das? Sie will jetzt sofort hier raus. Charlotta holt tief Luft: »Ich gehe jetzt.«
Julius legt den Kopf leicht schief. »Ich verstehe, dass du hier rauswillst. Aber wir müssen noch etwas warten.«
Sie versucht, ihn zu verstehen.
»Ich habe dir was zu essen und zu trinken mitgebracht.«
Julius langt in seinen Rucksack, ohne Charlotta aus den Augen zu lassen. Er holt eine Wasserflasche und die eingepackten Brote raus. Ganz langsam geht er ein paar Stufen runter, legt alles auf die Treppe. Erst als er wieder oben angekommen ist, macht Charlotta sich auf den Weg. Sie lässt ihn nicht aus den Augen. SchlieÃlich schnappt sie sich Flasche und Brote und weià fast nicht, was sie zuerst braucht, stopft dann die Toasts in sich rein, spült sie mit Wasser runter.
»Ich will nach Hause«, sagt sie schlieÃlich.
»Warum bist du hier?«
»Wer bist du? Hast den Schlüssel von Emilia?«
»Ja, Emilia hat mir den Schlüssel gegeben. Ich soll auf dich aufpassen.«
»Und meine Eltern?« Charlotta fragt ganz leise. Sie versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Irgendetwas stimmt hier doch nicht.
»Deine Eltern? Was soll mit denen sein?«, fragt Julius fast höhnisch. Eltern interessieren ihn nicht.
Charlotta kann das nicht glauben. Wo sind ihre Eltern? Was soll das? Sie stöÃt sich von der Wand ab.
»Ich gehe jetzt«, behauptet sie und krümmt sich im nächsten Moment. Das Fasten, der Wassermangel, plötzlich Essen in ihrem Magen, Wasser dazu. Ihre Innereien laufen Amok. Alles in ihr krampft sich zusammen, und sie merkt, dass sie sofort auf die Toilette muss.
»Geh«, brüllt sie. Sie kann sich nicht auf den Eimer hocken, wenn da ein Fremder vor ihr steht.
»Hau ab«, brüllt sie noch mal.
Julius guckt sie verdattert an.
»Ich muss mal«, sagt Charlotta unter Schmerzen. Und sie fügt an. »Kannst du mir wohl Toilettenpapier mitbringen?«
Wie schwer wiegt Vertrauen?
I m kleinen Besprechungszimmer der Intensivstation sitzen Chefarzt Dr. Hofer, ein Arzt aus der Neurologie, ein Spezialist für Schädel-Hirn-Traumata aus der Neurochirurgie, ein Psychologe, zwei Schwestern und Emilias Eltern. Die Sekretärin von Dr. Hofer verteilt umständlich Wassergläser. Das leichte Klirren macht die Stille noch schneidender. Endlich ergreift der Chefarzt das Wort: »Ich möchte mit Ihnen gerne den Fall Emilia Engels diskutieren. Das Mädchen liegt seit Samstag bei uns. Nach ersten positiven Entwicklungen stagniert der Heilungsprozess. Wir haben mehrfach den Hirndruck gemessen, doch der ist nicht angestiegen. Sonst hätte ich sofort eine Schädelöffnung zur Entlastung angeordnet. Ich hatte weitere Untersuchungen angeordnet, deren Ergebnisse jetzt vorliegen.«
Dagmar greift automatisch nach Michaels Hand. Er mus s sie sehr fest halten, damit das Zittern aufhört.
Mit emotionsloser Stimme erklärt der Arzt, dass er eigentlich nichts weiÃ. Weder eine Magnetresonanztomographie noch das Prüfen der Nervenbahnen hat irgendetwas gezeigt.
»Fest steht, dass Emilia eigentlich schon viel länger bei Bewusstsein sein müsste. Doch sie rutscht immer wieder in eine Bewusstlosigkeit, in der sie auch durch intensive Reize nicht erreichbar ist. Kurz: Wir stehen vor einem Rätsel und müssen beginnen, die Gründe vielleicht woanders zu suchen.«
Mit den letzten Worten hat er sich an Emilias Eltern gewandt. Er guckt sie sehr ruhig an.
Michael schaut irritiert zurück.
Es ist zu still im Raum.
»Was meinen Sie?«
»Es gibt leider Faktoren, die den Heilungsprozess entscheidend verzögern können. Hat Ihre Tochter Drogen genommen?«
»Was?« Dagmars Stimme ist Unglauben pur.
Dr. Hofer lehnt sich jovial vor. »Soll ich Ihnen was verraten? Ich habe durchaus den einen oder
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