Boeser Traum
Freizeichen ertönt, klopft Claudine nervös mit den Fingern auf den Tisch.
»Niklas ist jetzt auch weg«, sagt sie nur, als Klaus Peters endlich rangeht. Sie hält sich nicht mit langen Vorreden auf. Mit knappen Worten erklärt sie dem Kommissar, was Niklas weià und dass er nun verschwunden ist. SchlieÃlich legt sie auf und stellt das Telefon ganz vorsichtig in die Station.
»Er ist in fünf Minuten hier«, informiert sie ihren Mann. Sie hat sich immer noch nicht umgedreht und spricht leise weiter. »Ich habe alles aufgegeben für die Familie. Und plötzlich ist die Familie nicht mehr da. Ich fühle mich wie eine leere Hülle, wie ein unbewohntes Haus. Und weiÃt du, was am meisten schmerzt: Ich fühle fast nichts mehr. AuÃer Reue. Ich denke an so viele Dinge, die ich nicht gemacht habe. WeiÃt du noch? Wir wollten so viel reisen. Wir wollten in alle berühmten Opernhäuser dieser Welt. Wir wollten eine Trekkingtour durch Indien machen. Das wird nicht mehr passieren. Ich wollte mit Charlotta ins Ballett, ich wollte alleine mit ihr durch Frankreich fahren in einem alten Citro ë n mit Schiebedach. Habe ich nie gemacht.«
»Du wirst es noch machen können.« Uwe steht hinter ihr, hat ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Er spürt die harten Muskeln darunter und fragt sich, ob irgendwo in seiner Frau noch eine weiche Stelle ist.
»Kann es sein, dass Niklas seine Schwester sucht? Offenbar hat er das doch vorhin schon getan, wenn ich Sie richtig verstanden habe.« Klaus Peters klingt ruhig. Dabei rattert es in seinem Kopf. Er weiÃ, wenn jetzt auch noch der Bruder vermisst gemeldet werden muss, drehen die Eltern völlig ab und die Polizei im Allgemeinen und er im Besondern werden ein Problem kriegen. Wieso ist nicht besser auf das Kind aufgepasst worden? Wieso konnte es ungesehen das Haus verlassen? Wie weit ist die Polizei überhaupt in der Suche nach der vermissten Schwester?
»Könnte sein«, räumt Uwe Brandt ein.
»Wo würde er sie suchen?«, hakt Peters nach.
Die Eheleute gucken sich an.
Claudine grinst schwach. »Im Einkaufszentrum. Niklas hat sich immer beschwert, dass Charlotta da andauernd mit Emilia hingehen würde. Er hat sie immer gelöchert, was sie denn da machen würde. Das sei doch total öde da«, erinnert sie sich.
»Ich schicke zwei Beamte dahin. Was hat Niklas an?«
»Jeans, Piratenshirt, Sandalen«, antwortet Claudine.
Uwe schämt sich. Er hätte es nicht gewusst.
Die Angst hat nicht viel Zeit, noch tiefere Löcher in die Eltern zu beiÃen. Schon gute zehn Minuten später kommt der erlösende Anruf. Niklas ist tatsächlich in dem Einkaufszentrum gefunden worden. Er hatte Fotos und Zettel an die Wände geklebt. Die Bilder von Charlotta hatte er offenbar aus Fotoalben. Darunter hatte er geschrieben: Wo ist dieses Medchn? Auf anderen Zetteln stand nur Charlotta, kom zurüg.
Als ein Polizeiauto vorfährt und Niklas hinten aussteigt, rennen die Eltern sofort auf ihn zu. Beide wollen zuerst bei ihm sein. »Du hast uns so eine Angst gemacht. Du kannst doch nicht einfach weggehen. Wir kümmern uns schon um Charlotta«, prasselt es auf den Jungen ein.
Der bleibt stehen. »Ihr kümmert euch? Ihr sitzt die ganze Zeit hier zu Hause. Ihr macht nichts. AuÃerdem habt ihr mich belogen.«
Die Eltern erstarren. Klaus Peters schiebt sich an ihnen vorbei. Er hat seine Dienstmarke gezückt.
»He Niklas, weiÃt du, was das ist?«
Der Junge schnaubt verächtlich. »Klar. Dienstmarke. Weià doch jedes Kind. Wenn Sie Mist machen, müssen Sie die abgeben. Und die Knarre auch.«
»Du kennst dich ja aus. Ich bin Kommissar bei der Polizei, und alle meine Mitarbeiter sind gerade unterwegs, um deine Schwester zu suchen. Und wenn sie gefunden wird, werde ich über Handy oder Funkgerät sofort informiert. Deinen Eltern habe ich befohlen, zu Hause zu bleiben. Stell dir vor, Charlotta kommt zurück und keiner macht ihr auf. Das wäre ganz schön doof, oder?«
Während er auf Niklas eingeredet hat, hat er ihn ins Haus geschoben. Claudine und Uwe sind hinterhergetrottet.
»Wo ist sie?«, hören sie ihren Sohn leise fragen, und die Angst, die an den Worten hängt, ist deutlich zu hören.
»Wir wissen es noch nicht«, sagt Klaus Peters ehrlich. »Vielleicht wollte sie deinen Eltern einen Schreck einjagen und sie ist weggelaufen.
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