Boeser Traum
Rezept?«
Das ist es. Er bräuchte ein Rezept. Für vernünftige Beruhigungsmittel. Die Pillen, die er Emilia zurzeit zwischen die Lippen schiebt, sind nicht dauerhaft effektiv. An den Giftschrank kommt er zurzeit nicht mehr. Die schusselige alte Oberärztin, die immer vergisst, ihn abzuschlieÃen, ist zur Kur. Ihm fällt auf, dass ihn die Apothekerin immer noch anlächelt.
»Traubenzucker bitte«, sagt er schlieÃlich.
Vor der Apotheke setzt er sich auf eine Bank.
Ihm ist klar, dass er einen neuen Plan braucht. Er steckt sich die Knöpfe ins Ohr, dreht den MP3-Player laut. Sein Blick flattert umher, doch wirklich sehen tut er nichts. Er spürt den Schlüssel in seiner Jeanstasche. Der pikst sich in seinen Oberschenkel und mahnt ihn die ganze Zeit. Er sagt ihm: Ich bin hier. Ich bin hier. Ein bisschen genieÃt Julius den Schmerz. Er wühlt in seinen Gedanken. Und plötzlich erreichen ihn die Worte: Drück mich fest an dich, Schenk mir deine Schulter, Du brauchst Nichts zu sagen, Lass mich nicht los! â Ich will einfach vergessen, all das was passiert, und mich bei Dir verstecken, ich habe Angst mich zu verlierân. â Lass die Zeit nur kurz stillstehen. Und den Weg gemeinsam weiter gehen â¦
Er ist wie elektrisiert von dem Text. Er hört den Song noch mal. Wieder Unheilig. Er will vergessen, er will sich verstecken.
Die Worte könnten ganz tief aus seiner Seele kommen.
Er will den Weg gemeinsam gehen â mit ihr.
Sie werden sich verstecken.
Plötzlich ist die Lösung ganz nah.
Er wird weggehen mit Lotta. In ein anderes Land. Untertauchen, ein neues Leben anfangen. Die Erinnerungen über Bord werfen. Bei null anfangen.
Die Idee, dass er mit Lotta in diesem Loch hausen wird, ist totaler Quatsch. Kranke Fantasien. Er wird mit ihr neu beginnen. Ja, er will sich verstecken mit ihr. Nicht verkriechen. Südamerika fällt ihm ein. Gehen da nicht alle hin, die nicht zurückwollen? Die, die eine neue weiÃe Seite im Buch des Lebens beginnen wollen? Es müsste ein Land sein, in dem es nicht so schwierig ist, ohne legale Dokumente zu leben. Paraguay vielleicht. Oder Uruguay. Oder Venezuela? So genau kennt er sich nicht aus. Vielleicht auch Peru oder Bolivien? Am besten wäre ein armes Land. Da könnte er vielleicht im medizinischen Bereich arbeiten, ohne dass jemand zu viele Papiere verlangt. Und plötzlich geht die Fantasie mit ihm durch. Er sieht sich in einem kleinen Kinderkrankenhaus. Er hilft den kleinen Patienten. Er kann wirklich was tun. Keine Windeln mehr bei Demenzkranken wechseln. Keine halbtoten Senioren mehr füttern. Er würde sich eine lustige Handpuppe kaufen und damit Quatsch machen, damit die Kinder keine Angst hätten oder nicht merken, dass sie gerade geimpft werden. Er weiÃ, wie Angst ein Kind von innen auffressen kann, und deswegen würde er den Kindern helfen können. Und wenn er am Abend nach Hause käme, in eine kleine Hütte irgendwo, wäre Lotta da. Sie wäre sein Zuhause. Und er ihr Beschützer. Er würde ihr erzählen von den Mädchen und Jungen. Vielleicht hätte sie auch Lust, mit im Krankenhaus zu arbeiten. Das wird man sehen.
Fest steht nur: Er hat noch viel zu tun. Zwanzig Minuten später ist er am Haus.
Genau zum gleichen Zeitpunkt sitzt Niklas auf der Bordsteinkante vorm Haus. Er hat mit seinen Eltern verabredet, dass er da â wo seine Eltern ihn sehen können â auf Charlotta warten darf. Zuerst ist er misstrauisch, als ihn der groÃe Junge anspricht.
»Du bist Niklas, oder?«, fragt Mats freundlich und prellt seinen Basketball.
Niklas nickt nur.
»Ist deine Schwester schon wieder da?«
Niklas schüttelt traurig den Kopf.
Mats lässt den Ball weiter aufspringen. SchlieÃlich sagt er: »Komm, ich spiel mit dir. Dann geht die Zeit schneller rum.«
Niklas ist sofort auf den Beinen und schnappt sich den Ball.
Mats hat nicht nur Mitleid mit dem kleinen Jungen. Auch er möchte, dass die Zeit, bis Charlotta endlich wieder da ist, so schnell wie möglich vergeht.
Mit dem Rücken zur Wand
S ein Herzschlag ist deutlich an der Halsschlagader zu sehen. Immer wieder guckt er sich um. Er wartet ein paar Minuten, bis er den Schlüssel umdreht und vorsichtig die Tür öffnet. Charlotta, die auf der Treppe gehockt hat, springt auf, weicht ein paar Schritte zurück. Er steht im Gegenlicht. Sie kann nur eine Silhouette erkennen.
»Wo
Weitere Kostenlose Bücher