Boeser Traum
Vielleicht hatte sie einen Unfall und findet den Weg nach Hause nicht mehr.«
»Und vielleicht hat sie jemand geklaut und eingesperrt«, sagt Niklas.
»Ja, oder das. Was glaubst du denn? Meinst du, sie ist weggelaufen?«
»Ganz bestimmt nicht«, kontert der Junge sofort. »Die wollte doch nicht weg. Deswegen hat sie doch so viel geweint. Sie wollte doch unbedingt hierbleiben, da läuft man doch nicht weg, oder?«
Klaus Peters nickt, und er fragt sich, ob man nicht gerade wegläuft, weil man eben nicht wegwill. Ist das der Schlüssel?
Lass die Zeit stillstehen
J ulius zittert richtig vor Aufregung. Er steht in seinem Zimmer und überlegt, was er einpacken muss. Was braucht seine Lotta? Wasser auf jeden Fall. Er steckt vier Flaschen in seinen Rucksack. SchlieÃlich will sie sich bestimmt auch die Hände und das Gesicht schon mal waschen. Er wühlt zwischen seinen Handtüchern. Welches soll er ihr mitbringen? Kamm und Bürste hat er schon eingesteckt. Was zu essen braucht sie wohl auch. Wenn sie länger nichts gegessen hat, sollte es nicht zu scharf oder fettig sein. Er bestreicht zwei Toastscheiben dünn mit Margarine. Er weià nicht mehr, wann er sich so gefreut hat.
Doch. Er weià es.
Seine Mutter hatte ihm versprochen, mit ihm nach Holland ans Meer zu fahren. Sie wollten in die Wellen laufen, Sandburgen bauen, Muscheln sammeln. Er hatte einen kleinen Drachen, den er endlich mal ausprobieren wollte. Er freute sich auf Pommes, auf Cola, auf alles einfach. Am Abend vor der Reise hatte seine Mutter ihm beiläufig erzählt, dass ihr neuer Freund Ralf auch mitkäme. Julius wird nie vergessen, wie diese Worte wie eine eiskalte Dusche schmerzten.
Während der Fahrt nach Holland hatte er hinten im Auto zwischen zwei lauten Boxen gesessen. Er hatte nur gesehen, wie seine Mutter und dieser Typ sich unterhielten. Er hatte zugesehen, wie der tätowierte Männerarm immer wieder zum Beifahrersitz rüberschlich.
Er war in die Wellen gelaufen, er hatte Muscheln gesammelt, er hatte Sandburgen gebaut. Seine Mutter hatte mit R alf auf einer Decke gelegen. Am Abend gab es Pommes und Cola und dann durfte Julius fernsehen. Er sollte auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Ralf und Mama schliefen im Schlafzimmer. Sie hatten gar nicht mitgekriegt, dass er die Nächte auf dem Balkon verbrachte. Er setzte sich auf einen Stuhl vor das Schlafzimmerfenster. Da waren beige Rollos runtergezogen. Doch wenn es drauÃen dunkel wurde, konnte er das Schattenspiel beobachten. Er fand es fies, es ekelte ihn an. Aber er wollte in der Wirklichkeit bleiben, um seinen Fantasien nicht ausgeliefert zu sein.
Was ihn am meisten angewidert hatte bei diesem Kurzurlaub, war der Abschied von dem Typen.
»Na, da haste in der Schule wohl was zu erzählen. Gut, dass du dich auf dem Balkon nicht erkältet hast, was?« Dabei hatte der Typ ihn so feist angegrinst und ein Auge zugekniffen.
Er hatte also gesehen, dass Julius mit seinen acht, neun Jahren vor dem Fenster gesessen hatte, und es hat ihm nichts ausgemacht!
Julius kneift die Augen fest zusammen, um die Bilder wegzuschieben. Er guckt sich suchend im Zimmer um. Was braucht er noch? Vielleicht ein frisches T-Shirt für sie. Und auch Verbandszeug. Vielleicht ist sie ja verletzt.
Und plötzlich kommt er an der Frage nicht mehr vorbei: Warum sitzt dieses Mädchen da eingeschlossen im Keller eines verlassenen Hauses und wieso hat diese Emilia den Schlüssel dafür?
Weià sonst wirklich keiner davon?
Warum hat Emilia Lotta eingesperrt?
Er holt tief Luft. Sie wird ihm alles erzählen. Und egal, was sie getan hat, er wird sie beschützen. Er schnappt sich seinen Rucksack, schwingt sich aufs Rad. An der Apotheke macht er noch kurz halt. Er will noch Traubenzucker kaufen. Der Kunde vor ihm bezahlt schon, als ihn die Erkenntnis wie eine Nadel unter die Haut sticht: Womöglich weià wirklich nur Emilia von Lotta. Aber dann weià immerhin eine Person zu viel von ihr. Egal, wohin er mit Charlotta geht, was er mit ihr vorhat â Emilia ist eine Gefahr. Er wird Emilia nicht dauerhaft im Koma halten können. Irgendwann wird sie zu sich kommen und von Lotta erzählen.
Und vielleicht sogar davon, dass sie gegenüber Julius ihr Geheimnis preisgegeben hat. Dass er wusste, wo der Schlüssel ist.
»Was kann ich für Sie tun?« Die Apothekerin schaut ihn freundlich an. Er starrt zurück. »Haben Sie ein
Weitere Kostenlose Bücher