Boeser Traum
seinen Rucksack, holt den Tee raus.
»Der wird dir gut bekommen.«
Er stellt die Flasche nicht vor sie auf den Boden. Er hält sie ihr hin. Sie zögert, greift dann aber danach und achtet sehr genau darauf, dass ihre Finger sich nicht berühren. Sie nimmt zwei, drei kleine Schlucke.
»Ich möchte jetzt nach Hause«, sagt sie leise.
»Ich weiÃ. Aber das geht noch nicht.«
Sie versucht energisch aufzustehen. »Ich gehe jetzt«, behauptet sie und wankt leicht.
Julius steht schon. »Du wirst nicht gehen«, sagt er nur.
Ein Zittern geht durch ihren Körper. Irgendetwas in ihr sagt ihr, dass der Albtraum nicht vorbei ist. Im Gegenteil.
»Wo ist Emilia?«
»Es geht ihr nicht gut. Sie liegt im Krankenhaus. Deswegen hat sie mich geschickt. Du kannst mir vertrauen. Ich helfe dir.«
»Was heiÃt, es geht ihr nicht gut?« Charlotta beiÃt sich auf die Unterlippe.
»Sie hatte einen schlimmen Unfall.«
»Einen Autounfall? Wird sie überleben?«, flüstert die Freundin ängstlich.
»Das weià ich nicht«, antwortet Julius kühl und vergisst zu erwähnen, dass er es deshalb noch nicht weiÃ, weil er es noch nicht entschieden hat.
Das ist zu viel für Charlotta. Sie geht auf die Knie. Sie schluchzt, wischt den Rotz mit dem frischen Shirt ab.
»Wieso bin ich nicht einfach gegangen? So schlimm wäre es bestimmt nicht geworden. Andere Mädchen stellen sich da nicht so an.«
Julius versucht sich einen Reim auf ihre Worte zu machen. Was wäre nicht so schlimm geworden? Was machen andere Mädchen auch? Fragen kann er sie nicht. Er muss so tun, als habe Emilia ihn eingeweiht. Er muss so tun, als habe sie ihm vertraut.
Klar ist ihm: Wenn Emilia ihre Freundin Charlotta hier eingesperrt hat, damit die nicht irgendwohin geschickt wird, müssen die Eltern doch einen fürchterlichen Plan gehabt haben. Eine unheimliche Idee keimt in ihm auf. Sollte Charlotta irgendwo in der Fremde Geld verdienen? Und womit kann ein so hübsches Mädchen wohl am schnellsten Kohle machen? Er hält die Luft an.
»Ich muss zu meinen Eltern«, sagt Charlotta.
Er lächelt mitleidig. Wie schlecht muss es ihr gehen, dass sie jetzt trotzdem zu ihren Eltern will.
»Denk nicht mehr an deine Eltern«, sagt er ruhig.
Sie horcht auf, mustert ihn, versucht in seinem Gesicht etwas zu lesen. Er sieht mitleidig aus. Ein schwarzer Gedanke kriecht in ihren Kopf.
»Wer war alles in Emilias Unfall verwickelt?«, fragt sie vorsichtig und gibt Julius die perfekte Vorlage. Er ist so schlau, nicht zu antworten. Er guckt einfach auf den Boden und sagt damit so viel.
»War Emilia mit im Auto meiner Eltern?«
Er nickt ganz leicht.
Charlotta kann es sich vorstellen. Ihre Eltern hatten Angst, riesige Angst. Sie sind zu Emilia gefahren, wollten mit Emilia reden. Fragen, ob die etwas über ihre Tochter wisse. Vielleicht wollten sie sie dann zusammen suchen. Vielleicht ist Emilia mitgefahren, um mal das Wort »Entführung« fallen zu lassen. Ihr Vater wird zu schnell gefahren sein. Ihre Mutter wird die ganze Zeit geheult haben. Dann hat es geknallt.
Charlotta fühlt, wie sie innerlich ganz hart wird. Alles in ihr stirbt ab. Sie hat ihre Eltern umgebracht. Sie ist schuldig.
»Und Niklas?«, flüstert sie Minuten später.
Julius fragt sich, wer Niklas wohl ist. Sicherheitshalber schüttelt er den Kopf. Ganz kurz schlieÃt Charlotta dankbar die Augen.
Immerhin: Ihr Bruder lebt.
Dafür aber hat sie ihn zu einem Waisen gemacht.
Mittlerweile hat Julius die Digitalkamera aus der Tasche geholt. »Schau mich mal an«, fordert er sie auf.
Sie gehorcht. Sie fragt sich nicht, warum er ein Foto macht. Alles ist unwichtig. Und sie zuckt auch nicht, als er ihr ganz vorsichtig die Haare aus dem Gesicht streicht. Sie nimmt nicht wahr, wie ein wohliger Schauer über seine Haut geht. Tot guckt sie in das Objektiv. Er drückt dreimal ab, dreimal schieÃt der Blitz wie ein heller Schmerz in ihre Augen.
»Ich muss jetzt gehen. Aber ich komme wieder«, hört sie wie durch einen Nebel. Sie schaut noch nicht mal auf, als er die Treppe hinaufsteigt und die Tür hinter sich zuschlieÃt.
Erst Sekunden später wird ihr klar, dass sie wieder alleine ist.
»Ich muss zu Niklas«, brüllt sie plötzlich. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so ein starkes Gefühl. So ein alles überlagerndes Wollen. Jede Zelle in ihr schreit.
Weitere Kostenlose Bücher