Boeser Traum
Abstand zwischen Herd und Kühlschrank. Ob er deswegen genau fünf trinkt? Weil es sonst unordentlich aussähe? Um Punkt sieben ruft seine Mutter Tim in die Küche.
Sie schichtet die Bratkartoffeln samt Rührei auf die Teller. Auf zwei Teller. »Eine Kollegin hatte Geburtstag, ich hatte gerade zwei dicke Stücke Kuchen. Ich schaffe heute nichts mehr«, lacht sie und Tim kann sie nicht angucken.
Er isst konzentriert, stetig, trinkt ein Glas Wasser dazu. Das schmeckt ein bisschen nach Kupfer. Es ist aus dem Hahn. Er freut sich schon jetzt auf das Kaugummi danach.
Cut. Jetzt würde Charlotta einen harten Schnitt machen. David, Maya und ihre Eltern am Abendbrottisch.
Es gibt ganz einfach Brot, Käse, Wurst. Eigentlich. Aber die Bilder zeigen, dass die Wurst von der Fleischtheke ist. Der Käse sieht würzig und teuer aus. Es gibt Traubensaft, Joghurt aus dem Glas, die Mutter hat noch ein paar Tomaten in Viertel geschnitten. Charlotta kann beide Szenen richtig riechen. Die abgestandene, alte Luft mit fettigem Film auf der einen Seite, die klare, frische Luft in der anderen Küche.
Kann die Freundschaft der beiden Jungen das Temperaturgefälle ausgleichen?
Charlotta steht auf. Ãffnet langsam die Augen. Die Beine schmerzen, der Rücken fühlt sich steif und hart an. Sie war tief in ihrem Filmprojekt versunken â jetzt wird ihr wieder bewusst, wo sie ist. Sie schnuppert vorsichtig an sich und stellt erstaunt fest, wie sehr sie selber schon stinkt. Mit staksigen Schritten geht sie die Treppe runter, holt sich die Wasserflasche. Sie würde sie am liebsten austrinken, doch irgendwas in ihr hält sie davon ab. Sie macht kleine Schlucke. Behält jeden ein paar Sekunden im Mund, ehe sie schluckt. Sie versucht nicht darüber nachzudenken, wann Emilia wohl kommt. Irgendwann wird die Tür aufgehen, bis dahin muss sie durchhalten.
Tanzende Buchstaben
E milia schafft es kaum, die Augen offen zu halten. Es ist so hell. Und es fühlt sich in ihr so an, als würde der Schmerz durch das Licht noch spitzer. Sie kann gar nicht genau sagen, wo der Schmerz sitzt, wo er am heftigsten pocht und beiÃt. Sie will schlafen. Eigentlich. Doch von ganz hinten in ihrem Kopf kommt eine Stimme. Die schreit sie an. Sie solle wach werden. Charlotta. Immer wieder sieht sie den Namen vor ihren Augen. Die Buchstaben tanzen, geraten durcheinander, verblassen. Ihr Gehirn strengt sich an. Aber manche Türen sind einfach noch zu. Sie hört ihre Eltern leise reden, es beruhigt sie irgendwie. Eine fremde Stimme mischt sich ein.
»SüÃe, mach bitte die Augen auf. WeiÃt du, wer wir sind?«, hört sie ihre Mutter irgendwann. Was soll das? Natürlich weià sie, dass das ihre Mutter ist. Sie schlägt kurz die Lider auf, guckt ihre Mutter an, krächzt ein »Ja«.
Ihre Hand wird gedrückt.
»Sie ist im Keller«, hört sie sich selber sagen. Die Worte kamen von ganz alleine.
»Wer ist im Keller?«, fragt ihre Mutter.
Doch die fremde Stimme ist wieder da. »Lassen Sie sie. Sie braucht Zeit.«
»Keine Zeit«, sagt Emilia mit geschlossenen Augen.
»Ruh dich ein bisschen aus.« Das war ihr Vater.
Ja. Sie möchte sich ausruhen, abtauchen in den Schlaf. Die Vorstellung ist einfach so verlockend. Aber da ist eine Sirene in ihr. Sie weiÃ, dass sie das unbekannte Puzzle in sich zusammensetzen muss, dass sie es schnell zusammensetzen muss. Emilia kann sich nicht daran erinnern, warum es so eilt. Woher die Panik in ihr kommt. Manche Erinnerungen in ihr sind noch zu blass. Es fehlen die Konturen. Sie sieht sich auf dem Rad. Sie fährt nach Hause, ist schnell. Die Beine trampeln im Akkord. Sie muss vor ihrer Mutter zu Hause sein. Daran erinnert sie sich genau. Warum? Plötzlich taucht Charlotta vor ihr auf. Mit einem Kapuzen-Shirt. Sie hat Angst, sitzt mit auf Emilias Rad. Wieso muss sie jetzt an einen Keller denken? In Gedanken geht sie zu Hause in den Keller. Was soll da sein? Wieso sollte Charlotta da sein? Plötzlich hört sie einen lauten Knall, prallt mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe des Autos. Die Erinnerung an den furchtbaren Unfall hat sie eingeholt. Sie stöhnt auf. Eine kühle Hand legt sich ganz sachte auf ihre Stirn. Ein bisschen hilft das wirklich. Sie schafft es, ein Auge aufzumachen, und sieht eine Krankenschwester. Nein. Sie erkennt es an der Bewegung. Das ist keine Frau. Wohl ein Pfleger mit längeren Haaren. Er macht
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