Boeser Traum
genau, ob es nicht doch irgendetwas gibt, warum sie fortgelaufen sein könnte.«
Auf dem Weg zurück zu den Autos kommen sie noch mal an der Stelle vorbei, an der Charlottas Rad liegt. Claudine schlieÃt die Augen. Sie stellt sich vor, wie ihre Tochter hier entlangfährt. Warum geht sie zu Fuà weiter? Hat jemand sie angehalten? Hat sie jemanden getroffen? Geht sie freiwillig mit? Hat sie vielleicht doch einen Freund? Wollte sie sich kurz mit ihm treffen für zwei, drei Küsse? Hat er sie dann überredet, mit ihm zu kommen? Und wenn ja â warum hat Charlotta nie von ihm erzählt? Claudine dachte bislang immer, sie kenne ihre Tochter. Hat sie sich die Schwärmerei für Mats eingebildet? Oder hat er vielleicht doch was mit Charlottas Verschwinden zu tun? Er hätte sie irgendwo hinbringen und einsperren können, um ganz unschuldig wieder zu Hause zu sitzen, als Claudine da war, um nach Charlotta zu fragen. Darf sie diese Vermutung der Polizei erzählen? Oder hat ein Fremder die Tochter gezwungen, in den Bus zu steigen? Womit könnte er sie bedroht haben? Claudine muss würgen. Alles in ihr zieht sich zusammen, drückt ihren Magen nach oben. Der stülpt sich. Wenn sie schon was gegessen hätte, müsste sie jetzt brechen.
Eine Kamerafahrt
C harlotta folgt in ihren Gedanken Tim auf dessen Weg nach Hause. Sie sieht ihn wie durch eine Kamera vor sich herfahren. Er wird immer langsamer. Am Anfang war er noch beschwingt, hat rasante Kurven mit dem Skateboard gemacht, Sprünge versucht. Jetzt rollt er lustlos. Am letzten Kiosk, kurz bevor er zu Hause ankommt, holt er sich ein Päckchen Kaugummi. Auch die gibt es zu Hause nicht mehr. Wie so vieles. Natürlich war auch er irritiert gewesen, als sein Vater den Job verloren hatte. Er hatte nie darüber nachgedacht, was und wo sein Vater genau arbeitet. Bei Opel â das wusste er. Viel mehr aber auch nicht. Und von einen Tag auf den anderen war sein Vater morgens nicht mehr mit dem Bus zum Werk gefahren. Er fuhr überhaupt nirgends mehr hin. Er saà in der Küche. Bis ungefähr sechs Uhr abends. Dann saà er im Wohnzimmer. Tims Mutter war die letzten Jahre zu Hause geblieben. Sie hatte sich um Tim gekümmert und um ihren Mann, der es genossen hatte, dass seine Frau nicht arbeiten musste. Jetzt, nachdem auch der Anspruch auf Arbeitslosengeld ausgelaufen war, hatte sie sich um Putzstellen bemüht, die bekam man auch ohne Berufserfahrung. Am Anfang hatte sie in drei Arztpraxen geputzt, jetzt arbeitete sie für eine Genossenschaft und musste in miefigen Mietshäusern wischen. Wenn sie nach Hause kam, roch sie oft komisch. Aber immerhin stank sie nicht so wie sein Vater. Tim schämte sich für seine Eltern, so wie sein Vater sich vor sich selbst schämte. Der konnte es kaum ertragen, dass seine Frau jetzt fremden Dreck wegmachen musste, um die Familie irgendwie über Wasser zu halten. Er fühlte sich als Versager und atmete das mit jeder Pore aus. Am Anfang hatte er Tim leidgetan, jetzt ekelte sich der Sohn vor dem Vater. Vor dem Geruch, dem fleckigen Anblick, dem trüben Gesicht. Charlotta geht mit Tim durch die Wohnungstür, hört das kurze »Hallo« Richtung Wohnzimmer, geht mit ihm direkt in dessen Zimmer. Er hat schon gerochen, dass es mal wieder Bratkartoffeln geben wird. Dazu wurden bestimmt wieder zwei Eier mit viel Wasser und Milch zu Rührei verschlagen. Die Mutter wird wieder behaupten, sie habe schon in der Stadt was gegessen und/oder so ein flaues Gefühl im Magen. Charlotta lässt das Objektiv durch das Zimmer wandern. Schreibtisch, Bücher, eine groÃe FuÃballfahne, ein paar Klamotten auf dem Boden. Eine groÃe Lücke im Regal. Da hatte Tim mal einen eigenen Fernseher stehen. Der musste verkauft werden. Sie zeigt wieder sein Gesicht, die traurigen Augen, die durch das alles hindurchsehen. Er streift die schmutzigen Turnschuhe ab, ein Zeh blitzt durch den Socken. Er lässt sich aufs Bett fallen, in die zerknubbelte Decke, und starrt in die Luft. Obwohl der Fernseher im Wohnzimmer läuft, hört er dieses leise Klicken, dem ein Zischen folgt. 18:16 Uhr. Sein Vater hat die erste Flasche Bier geöffnet. Er wird noch vier weitere an diesem Abend trinken. Er trinkt jeden Abend fünf Flaschen. Als dürfe er erst ins Bett gehen, wenn er die absolviert hat. Jeden Morgen stehen fünf leere braune Flaschen aufgereiht in der Küche. Sie passen genau in den
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