Boeser Traum
Augen wandern unablässig, fallen wieder zu. Sie hat viele Schmerzmittel bekommen in den letzten Stunden. Wie dicke Decken umhüllen sie ihr Bewusstsein. Aber ein Wort frisst sich unaufhörlich wie eine Motte durch den Stoff. »Lotta.«
»Ist Lotta ihre Schwester?«, fragt einer der Ãrzte in den Raum. Julius wird sofort in die Cafeteria geschickt, um die Eltern zu holen.
Dagmar stürmt in das Zimmer, bleibt abrupt stehen. Bis gerade war die Freude über die Nachricht »Emilia ist aufgewacht« überwältigend groÃ. Jetzt plötzlich trifft sie die Erkenntnis, dass damit noch nicht alle Fragen beantwortet sind.
»Was ist mit ihr?«, fragt sie atemlos und etwas zu laut.
Emilia zuckt zusammen.
»Wer ist Lotta?«, fragt der leitende Arzt.
»Hat sie nach Lotta gefragt? Typisch. Das ist ihre beste Freundin Charlotta.« Dagmar ist ein bisschen enttäuscht. Warum kann ihre Tochter nicht nach »Mama« rufen?
»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn diese Charlotta hier wäre, um Emilia wieder ganz ins Hier und Jetzt zu holen«, rät der Arzt. »Sie scheint eine sehr wichtige Bezugsperson zu sein.« Er wendet sich wieder Emilia zu.
»Emilia, kannst du mich hören? Mach bitte die Augen auf. Emilia, hörst du mich? Ich möchte, dass du wach bleibst«, fordert er.
Dagmar ist bereits zur Tür raus. Schon auf dem Flur macht sie das Handy an, tippt zweimal die falsche Pin-Nummer, mahnt sich dann zur Konzentration.
Claudine ist nach dem zweiten Klingeln dran. Dagmar merkt nicht, wie belegt die Stimme der Freundin ist, sie redet sofort los. »Claudine, ich muss sofort Charlotta sprechen. Emilia hatte gestern Mittag einen Autounfall mit dem Rad. Sie ist gerade erst aufgewacht und verlangt nach Charlotta. Charlotta muss uns helfen, Emilia aus dem Koma zu holen. Kann sie sofort ins Krankenhaus kommen?«
»Charlotta ist seit gestern Vormittag weg. Wir kommen um vor Angst. Wir haben schon so oft bei dir und Emilia angerufen. Aber ihr seid nicht drangegangen. Wir dachten, dass Emilia vielleicht etwas wüsste.«
Stille.
Beide Frauen sind atemlos vor Sorge um das eigene Kind. Sie versuchen Mitgefühl für die andere aufzubringen, aber da sind keine freien Gedanken, keine freien Kapazitäten. Und so kommen sie nicht darauf, dass gestern Vormittag und gestern Mittag zusammengehören.
Sie versichern sich gegenseitig Anteilnahme, versuchen erst gar nicht, sich Mut zuzusprechen. Dann legen sie auf. Als Claudine Uwe erzählt, was mit Emilia geschehen ist, runzelt er kurz die Stirn. Vielleicht wäre er daraufgekommen, dass es einen Zusammenhang gibt, wäre nicht in diesem Moment erneut das Telefon gegangen. Es ist die Polizei. Charlottas Fahrrad wurde gefunden. In einem Feld. Daneben ihr kaputtes Handy.
Das Ende der Spur
C laudine sieht an seinem Gesichtsausdruck, dass die Nachricht keine gute ist. Sie hält den Atem an, alles in ihr wird steif.
»Wir kommen sofort«, hört sie ihren Mann sagen.
Sie sehen sich an. Claudine traut sich nicht zu fragen. Sie will eigentlich gar nicht wissen, was er ihr zu sagen hat. Wohin kommen sie? Ins Krankenhaus? Ins Leichenschauhaus?
»War das Charlotta?« Niklas kommt im Schlafanzug die Treppe runtergehüpft. »Kommt die jetzt? Sie hat doch versprochen, an diesem Wochenende mit mir die Lego-Eisenbahn aufzubauen. Ich finde das total doof, dass sie jetzt einfach nicht da ist. AuÃerdem will ich Kakao zum Frühstück.«
Die Eltern schauen sich an. Ihre Gefühle gehen weit über »total doof« hinaus. Und genau das dürfen sie jetzt nicht zeigen. Claudine kratzt aus allen Ecken ihres Gehirns Mut zusammen.
»Niklas, ich bin sicher, dass Papa auch ein perfekter Eisenbahn-Aufbauer ist. Geh doch schon mal hoch und hol die Kiste raus, ja? Und wenn du schon mal oben bist, kannst du dich vielleicht ja auch mal anziehen. Und natürlich gibt es Kakao zum Frühstück.«
Mit den Worten schiebt sie das Kind zurück zur Treppe. Der spürt, dass da irgendwas in der Luft mitschwingt, das sich nicht gut anfühlt. Mit hängenden Schultern geht er wieder auf sein Zimmer.
»Wohin sollen wir kommen?«, flüstert Claudine, als ihr Sohn auÃer Hörweite ist.
»Sie haben Charlottas Rad gefunden. Auf einem Feld hinter den Tennisplätzen. Richtung Autobahnauffahrt. Wir treffen uns da jetzt mit der Polizei.«
»Vielleicht ist es ja gar nicht ihr
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