Boeser Traum
ist für sie.
Er geht zurück zu ihrem Bett, legt eine Hand leicht auf ihre Schulter. »Du wirst sie retten«, sagt er einfach.
Sie macht die Augen auf, der Blick flattert, endlich fixiert sie ihn. Er sieht, wie sie das Bild scharf stellen will, gucken will, wer da spricht.
»Ich muss sie retten«, wiederholt sie und hat plötzlich sogar wieder ein bisschen Mimik.
Er will ihr Kraft geben, sie aber auf keinen Fall aufregen. »Ich bin sicher, dass du sie retten wirst«, wiederholt er.
»Sie lebt, oder?«, fragt sie sehr leise.
Er erschrickt. Von wem redet sie wohl? Wer ist »sie«? Was kann er jetzt antworten? Er will sie nicht belügen, verwirren.
»Ruh dich aus. Das ist das Wichtigste«, flüstert er und geht.
Im Schwesternzimmer nimmt er sich die Akte vor. Er überfliegt die Diagnose, Therapie, OP -Bericht. Er hat keine Ahnung, wovon sie spricht. Vielleicht war noch jemand anders an dem Unfall beteiligt? Eine Freundin?
»Hier steckst du. Du solltest uns in der Aufwachstation helfen«, herrscht ihn Schwester Uta an, die ins Zimmer gerauscht kommt. Er legt die Akte sofort weg. Auf dem Weg in Aufwachzimmer fragt er die Kollegin. »Ich war gerade kurz bei dieser Emilia. Die redet ziemlich wirres Zeug, oder?«
Uta verdreht die Augen. »Das geht schon den ganzen Tag so. Wir mussten ihr zweimal was zur Beruhigung spritzen, weil sie sich so aufgeregt hat. Ich glaube nicht, dass sie diesen Crash unbeschadet überstanden hat. Irgendwas in ihrem Köpfchen scheint da verrutscht zu sein.«
Julius nickt. Es passt ihm nicht, wie kalt die Schwester über Emilia spricht. Sein Beschützerinstinkt ist gerade wach geworden.
Der Abend geht langsam schlafen, die Nacht wird wach. Es wird ruhiger auf der Station. Gegen ein Uhr ergreift Julius die Chance, noch einmal Emilia zu besuchen. Sie schläft ruhig. Die Atemzüge gehen gleichmäÃig. Er kann nicht anders. Er will ihr helfen. Er will wissen, was da ist, was sie so bedrückt und sie unruhig macht. Deswegen muss sie wach werden. Er kneift sie erst vorsichtig in den Arm. Dann stärker. Endlich bewegt sie sich.
»Lotta?«, flüstert sie in den Raum. Sie ist noch gar nicht wach. Julius wundert sich. Sie ist noch mehr im schwarzen Nichts als im Leben und schon formt ihr Mund diesen Namen. Ganz vorsichtig setzt er sich auf die Bettkante und aus dem Augenwinkel registriert er das Bild. Er wendet den Kopf und erstarrt. Im ersten Moment glaubt er, seine Mutter sieht ihn an. Mit zittrigen Fingern nimmt er das Foto vom Nachttisch, wendet es.
HDL Charlotta steht drauf. Charlotta? Ist das Lotta? Ganz langsam dreht er das Bild wieder. Alles in ihm zieht sich zusammen. Es sind nicht nur die langen Haare, die Kopfhaltung, die ihn so an seine Mutter erinnern. Es ist der Blick, der durch ihn durchgeht bis auf den Boden seiner Seele. Er sitzt da im unwirklichen Dämmerlicht und fühlt sich wie vom Blitz getroffen. So hat seine Ma auf einem Bild ausgesehen und ihn angesehen, das er jahrelang mit sich getragen hat. Es war eine Schwarz-WeiÃ-Aufnahme eines jungen Mädchens, das so unschuldig und gleichzeitig wild wirkte. Immer wieder hatte er nachts das Licht angemacht, das Foto unterm Kopfkissen hervorgezogen und hatte dieses zarte Gesicht gefragt: »Was ist bloà passiert?« Er sehnte sich nach dieser unschuldigen Frau auf dem Foto, die noch so viel Leben in den Augen hatte. Die noch nicht »beschmutzt« war, noch nicht diesen Schleier im Blick hatte. Wo war die geblieben?
Auf einer Klassenfahrt hatten ein paar Mitschüler das Foto entdeckt. Hatten ihn ausgelacht. Ein Bild von Mama unterm Kopfkissen â wie peinlich. Er hatte es leichtfertig zerrissen, wollte beweisen, wie unwichtig es ihm war. Vorsichtig hatte er es später mit Tesafilm wieder zusammengeklebt. Eine Narbe war natürlich geblieben.
Diesmal war es das Foto auf Emilias Nachttisch, von dem Julius den Blick nicht lösen konnte. Unfassbar â der gleiche Gesichtsausdruck â¦
Mit den Augen auf dem Foto tastet er nach Emilias Hand: »Was ist mit Lotta?«, flüstert er. »Erzähl es mir. Du kannst mir alles sagen.«
Der Verrat
C harlotta kann den Film nicht mehr stoppen. Er läuft einfach weiter. Sie sieht Tim im Flur der muffigen Wohnung stehen. Er starrt das Telefon an. Wie in Zeitlupe nimmt er es aus der Station. Er tippt die bekannte Nummer, hofft, dass keiner da ist. Dann könnte er eben auf den
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