Boeser Traum
Emilia hatte noch nie einen Unfall. Sie selber auch nicht. Neulich ist vor ihrer Schule fast ein Mädchen angefahren worden. Das war das totale Thema plötzlich. In ihrem Ort passiert zu wenig. Und wenn sie krank geworden ist? So richtig übel krank? Charlotta glaubt es selber nicht wirklich, aber das wäre eine Möglichkeit. Aber spätestens morgen wird Emilia dann da sein. Keine Krankheit wirft ihre Freundin für mehr als vierundzwanzig Stunden aus der Bahn. Charlotta weià auch, Emilia würde mit einem gebrochenen Fuà zu ihr kommen. Wenn sie wirklich will. Wenn es ihr wirklich wichtig wäre. Die kleinen, gemeinen Fragen sind wieder da: Ist sie Emilia wichtig genug? Was spielt sie für ein Spiel? Charlotta fängt wieder damit an, die Treppe vorwärts hoch und rückwärts runterzulaufen. Gerade das Rückwärtslaufen erfordert Konzentration. Der Gedanke trifft sie wie eine Keule. Sie kommt ins Stolpern, schlägt sich auf dem Beton das Knie auf.
Was, wenn Emilia überhaupt nicht mehr kommt?
Dann wird sie hier sterben.
Sie wird verdursten.
Die Vorstellung nimmt ihr fast den Atem. Ihr Herz stolpert, fängt an zu rasen. Ihre Eltern werden vielleicht nie erfahren, was aus ihr geworden ist. Sie werden zeit ihres Lebens nach ihr suchen. Wie diese Eltern, deren Tochter im Portugalurlaub verschwunden ist. Ihre Eltern werden vielleicht ahnen, dass sie tot ist. Aber sie können es nicht wissen. Sie werden Fotos von ihr verteilen. In ein paar Jahren Fotos, wie sie jetzt aussehen könnte. Und Niklas? Sie schluchzt. Sie wird ihm so fehlen. Was wird er sagen, wenn er gefragt wird, ob er Geschwister hat? »Eine verschwundene Schwester«? oder wird er einfach behaupten, er sei Einzelkind? Es zerreiÃt sie fast. Die Gedanken an Niklas tun am meisten weh. Wann verdurstet man? Wie lange wird es dauern? Wie wird es sich anfühlen? Oder wird sie irgendwann versuchen, das eigene Pipi zu trinken? Sie hat einen Film gesehen über einen Flugzeugabsturz in den Anden. Die Ãberlebenden haben irgendwann begonnen, Leichenteile zu essen, nur um nicht abzukratzen.
Was verdammt könnte der Grund sein, dass Emilia sie so bitterlich im Stich lässt?
»Sie ist selber entführt worden. Von ihrem Vater«, schieÃt es durch Charlottas Kopf. Sie weiÃ, wie sehr Emilia unter der Trennung damals gelitten hat. Und auch, dass der Vater sehr traurig war. Ist er nun zurückgekommen, um Emilia einfach mitzunehmen? Irgendwohin ins Ausland? Emilia würde nicht freiwillig gehen. Also müsste er sie zwingen. Vielleicht hat er sie betäubt, hinten in den Kofferraum seines Autos gelegt und ist auf dem Weg nach Marokko oder weià der Geier wohin. Wann wird Emilia wieder zu sich kommen? Wie lange kann man jemanden betäuben? Emilia hätte den Schlüssel zum Keller in ihrer Hosentasche. Alles in Charlotta zieht sich zu einem festen harten Knoten zusammen. Wie wird Emilia reagieren, wenn sie zu sich kommt?
Charlotta ist meilenweit von der richtigen Antwort entfernt und ihr wiederum eigentlich doch so nah.
Spurensuche
D ie Stimmung im Netz ist aufgebracht. Nachdem die ersten Freundinnen von Charlotta von der Polizei befragt worden waren, ist ihr Verschwinden DAS Thema im Chat. Echte Freundinnen, Facebook-Freundinnen und Bekannte diskutieren wild. Jenny hat das seit Stunden verfolgt. Irgendwann mischt sie sich einfach ein. Sie war in letzter Zeit auf jeden Fall oft mit diesem Mats zusammen , schreibt sie.
Die Reaktionen kommen sofort.
Wer ist Mats? Was will der von ihr?, wird sie gefragt.
Der wohnt bei ihr um die Ecke. Der war mal scharf auf mich und ich fand den irgendwie merkwürdig, antwortet Jenny.
In Wirklichkeit hatte sie es damals merkwürdig gefunden, dass er so gar nicht auf sie reagiert hatte. Das kennt die Vierzehnjährige nicht. Bislang hat noch jeder Typ gezuckt, den sie angebaggert hat. Sie ahnt, dass das mit ihrem Busen und ihrem losen Mundwerk zusammenhängt.
Was heiÃt merkwürdig?, will sofort eine Freundin von Charlotta wissen.
Ich fand den eiskalt, behauptet Jenny und das stimmt auch.
Ich habe den mal kennengelernt und fand den eigentlich ganz nett, mischt sich jetzt ein anderes Mädchen ein.
Sag ich ja. Der hat zwei Gesichter, kontert Jenny leicht beleidigt und klappt ihren Laptop schnell zu. Sie hat die Wohnzimmertür gehört und keinen Bock darauf, schon wieder angemeckert zu werden, weil sie so spät in der Nacht noch
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