Boeser Traum
zu machen, jetzt willst du mir die ganze Schuld in die Schuhe schieben? Es ist wirklich meine Schuld, dass Charlotta weg ist? Was glaubst du? Ist sie mit dem Rad weggefahren, um sich dann an einem Baum irgendwo aufzuknüpfen? Weil die böse Mama sie in ein Internat geben will? Oder glaubst du, sie hat sich irgendeinem Typen an den Hals geworfen, mit dem sie jetzt durchgebrannt ist, weil ihre Mutter so fies und gemein ist?« Mit der Schärfe ihrer Stimme hätte Claudine Brandt Papier schneiden können.
Uwe Brandt windet sich. »Vielleicht war uns einfach nicht klar, wie sehr sie darunter leidet. Vielleicht haben wir ihre Tränen und ihre Ablehnung nicht ernst genug genommen«, versucht er zu schlichten.
»Alles klar. Falls Charlotta also nicht wieder auftauchen sollte, übernehme ich die Verantwortung. Am besten trennen wir uns und du nimmst Niklas zu dir. Nicht dass ich den armen Jungen auch noch vertreibe.«
All die Angst hat sich in Bitterkeit und Zynismus gewandelt. Das Schlimmste aber ist: Claudine Brandt glaubt ganz tief in sich, dass ihr Mann recht haben könnte. Sie selber würde so gerne wieder in Frankreich leben. Die Sprache, das Flair fehlen ihr so. Sie möchte gerne wieder in die GroÃstadt. Mit einer überfüllten Metro fahren, in kleine Hinterhof-Theater gehen, Café au lait aus groÃen Schalen trinken, über Flohmärkte streifen, Kinofilme im Original sehen. Sie möchte eine groÃe Altbauwohnung im Herzen eines bunten Viertels mit kleinen Läden, sogar mit Lärm. Diese Stille rund um ihr neues Einfamilienhaus macht sie oft wahnsinnig. Die Stadt, in der sie mit ihrer Familie lebt, ist zu klein, um wirklich als Stadt zu gelten. Und zu groÃ, um dörfliche Gemütlichkeit aufkommen zu lassen. Es gibt ein Theater, das ab und zu von Tournee-Ensembles bespielt wird. In dem einzigen Kino werden nur die Blockbuster gespielt, selten verirrt sich mal eine Literaturverfilmung oder ein französischer Film in das Lichtspielhaus. Es gibt keine kleine Läden, nur langweilige Filialen nichtssagender Ketten. Edeka, C&A, H&M, Deichmann. Die Post hat mittags geschlossen. Am Samstag ist die Stadt ab sechzehn Uhr tot. Sie wollte, dass ihre Tochter mal das wahre Leben kennen lernt. Wenn sie es selber schon nicht mehr leben kann ⦠Claudine ist rausgegangen, hat sich im Badezimmer eingeschlossen.
»Claudine? Ist alles in Ordnung?«, hört sie ihren Mann vor der Tür.
Sie lacht falsch. »Es ist alles super. Mach dir keine Sorgen.« Sie drückt auf die Toilettenspülung. Sieht sich im Spiegel selber in die Augen. Und was, wenn Charlotta wirklich nicht wiederkommt? Sie hat beim Zappen mal eine Sendung über vermisste Kinder und Jugendliche gesehen. Sie hat den verzweifelten Eltern zugehört, die alle beteuerten, dass sie keine Ahnung hätten, warum ihre Kinder weg wären. Claudine hatten die Eltern leidgetan. Wie furchtbar das sein müsse, hatte sie gedacht, ehe sie auf den nächsten Kanal geschaltet hatte. Und jetzt? Würde sie dieses Fürchterliche aushalten können? Sie guckt sich ganz starr in die Pupillen. »Das WeiÃe im Auge des Feindes zu sehen, heiÃt nichts, als geduldig vorm Spiegel zu stehen«. Sie weià nicht mehr, wo sie das gehört hat. Aber sie weiÃ: Es stimmt.
Sie würde weggehen. Nach Frankreich. Ohne Uwe und Niklas. Nur so könnte sie überhaupt überleben. Die Nüchternheit ihrer Gedanken erschreckt sie. Will sie die eine Trennung durch eine andere erträglicher machen?
Kann man einem Schmerz mit einem anderen Schmerz begegnen?
Wie Männer morgens riechen
J ulius packt. Er hat kurzerhand beschlossen, sofort in sein neues Zimmer zu ziehen. Herrn Weber, seinem neuen Vermieter, ist das nur recht. Eigentlich hatte dessen Putzfrau â die es erstaunlicherweise doch gibt â gesagt, dass sie den Raum noch reinigen wolle, aber der junge Mann wird das selber übernehmen. Und zahlt auch ab sofort Miete. Julius stopft seine Sachen in seinen groÃen Rucksack. Er hat fast gute Laune. In letzter Zeit hatte er wirklich manchmal das Gefühl, in einer riesigen Gebärmutter zu leben. Nur Frauen um ihn herum. Das hatte ihm sein eigenes Geschlecht noch spürbarer gemacht. Er hatte angefangen, sich vor sich selbst zu ekeln. Er hatte mit Entsetzen registriert, dass sein Körper auf dieses Fleisch um ihn herum reagiert. Zweimal war er morgens mit einem feuchten Gefühl in der
Weitere Kostenlose Bücher